Was ist so falsch an mir?

von Kathrin Kipp

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 15.11.2021

 

Tonne-Theater – »See the real me« – eine Uraufführung von Jugendlichen zur Genderdebatte.

 

Reutlingen. »Homosexualität war nicht die Krankheit. Die eigentliche Krankheit war schon immer die Homophobie!« Auf der Tonne-Bühne tagt die »Kommission der Vielfalt«, eine bunte Mischung menschlicher Identitäten und Orientierungen, die dem Publikum eine gut sortierte Einführung in die aktuelle Genderdebatte mit vielen Argumenten und Beispielen präsentiert. »See the real me« ist ein diskursives Theaterstück von Jugendlichen unter der Leitung von Jana Riedel, Kerstin Risse, Michael Schneider und Sandra Omlor. Wer bin ich? Mit wem will ich? Wohin will ich? Und wie stehen mein Umfeld und die Gesellschaft dazu?

 

Identitätsfindung ist ein komplexer Prozess, den die Theatergruppe als aufklärerisches Erzähltheaterstück auf die Bühne bringt: Zwei Lager tauschen Argumente aus. Auf der einen Seite stehen die grauen Männchen mit einengenden Halskrausen aus Tüll. Sie stehen in jeder Hinsicht oben. Es sind die alten weißen Männer, Wertkonservative und Standardisierte, die mit Abweichungen von ihrem miefigen Altherrenkonstrukt von Zweigeschlechtlichkeit nicht umgehen können. Die als einstimmiger Chor gegen jede Form von Veränderung brüllen. Individualität und Vielfalt bringt Sie aus dem Konzept und ihre Privilegien in Gefahr. Sie hauen Sprüche raus, dass die »Ehe für alle« Kinder in ihrer Entwicklung schädigt, die Frauenquote Leistung verhindert und Sexismus nur ein Problem einzelner Missetäter ist.

 

Auf der anderen Seite tagt das Team Diversity, geschmückt mit LGBTQI-Fähnchen und bunten Frisuren, und behauptet sich als bi-, trans-, pan-, homo-, asexuell oder straight in einer immer noch binär strukturierten Gesellschaft. Immer wieder klopfen sie auf den Tisch mit ihren bunten Ordnern, in die sie gerne mal gesteckt werden. »Wann hast du gemerkt, dass du hetero bist, und wie haben deine Eltern reagiert?«, wird das Publikum gefragt. Schon die Biologie kenne vier Kategorien, mit denen das alles andere als eindeutige »Geschlecht« beschrieben wird: die inneren und äußeren Merkmale, die Chromosomen und Hormone. Und all das sagt noch lange nichts darüber aus, als was man sich fühlt und wohin man sich orientiert.

 

Und die LGBTQI-Community ist beileibe keine kleine Minderheit, denn mit mehr Aufklärung steige auch die Quote derer, die sich nicht mehr in eine der gängigen Schubladen stecken lassen. Aber jugendlich sein heißt nicht nur, eine Identität als geschlechtliches Wesen suchen zu müssen, sondern auch Ausgrenzungen anderer Art ausgesetzt zu sein: Körpernormen, Herkunft oder Religion bestimmen immer noch unsere Vorurteile. Themen wie Bodyshaming, inneres und äußeres Outing kommen zur Sprache. Alles ist gut so, wie ich bin, lautet die Message.

 

Und so erzählen sie ihre Geschichten: Annacarla Infante fragt sich, was Weiblichkeit an sich bedeutet: »Ist es ein Gefühl? Ist es das Aussehen, das Geschlecht, die Kleidung?« Darf man keine Pickel, keine Macken haben, keine Jogginghose tragen? Und wenn ein weibliches Wesen unfein auf den Boden spuckt, ist diese »Weiblichkeits-Defizitstörung dann schnell heilbar?«

 

Und was ist mit den Männern, fragt sich Frieder Kraiser als transsexuell bunter Vogel, mit grünem Zopf und rotgeschminkten Lippen, während die anderen ihre fiesen Vorurteile ins Mikro flüstern. »Kann ich nicht einfach Mann sein, ohne ein Mann zu sein?« Constanze Pangellas Figur wiederum leidet unter der Enttäuschung ihrer Mutter, als sie sich outet: »Bin ich denn nicht genug?« Emma Vopels Asexuelle kritisiert, dass eine Liebes-Beziehung immer nur körperlich gedacht wird: »Was ist so falsch an mir?« Und Laura Schneider denkt sich in ein Mädchen hinein, die sich einen abhungert, weil sie die Fettphobie ihrer Mitschülerinnen nicht mehr ertragen kann. Dazwischen machen Sky Lumetta und Mona El-Rawas Musik – Grey Dümmel, die im Bibelkreis gebrainwasht wird, spielt an der Gitarre ein romantisch-fieses Lied. Diverse Videoszenen stellen unsere Denkmuster in Frage. Am Ende steigert sich Rami Ikawi in eine amtliche Wutrede hinein, während Heather High für mehr Toleranz, Respekt und Mut zu Diversität plädiert: ein plastisch aufbereiteter Diskurs von Jugendlichen für Jugendliche.

 

 

Da hilft nur Toleranz

von Gabriele Böhm

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 13.11.2021

 

Theater – Premiere des Jugendprojekts »See the real me« zum Thema Gender und Diversity in der Tonne

 

Reutlingen. »Wie haben deine Eltern reagiert, als du ihnen gesagt hast, du bist hetero? Und wann hast du das gemerkt?« Humorvoll, drastisch und kompromisslos fassten die Spielerinnen und Spieler des Tonne-Jugendforums mit dem Theaterprojekt »See the real me« reihenweise heiße Eisen an. Das Publikum, das bei der Premiere am Donnerstagabend 90 Minuten fast regungslos im voll besetzten Saal der Tonne saß, bekam Schlag auf Schlag viel Stoff zur Reflexion über die Themen Gender, Diversity, Eigenwahrnehmung und das Gesehenwerden von anderen.

 

Die Stimmen der Gesellschaft

 

Auf der Bühne tagt an einem langen Tisch die »Kommission der Vielfalt«. Regenbogenfähnchen sind aufgebaut als Symbol für Toleranz und Akzeptanz. Denn dafür steht die Gruppe, deren Mitglieder sich nacheinander als hetero-, homo-, bi- oder intersexuell, »queer« (seltsam), unentschlossen oder sexuell uninteressiert outen. Zum Entsetzen einer weiteren Gruppe, die auf einem Aufbau über ihnen thront, die »Stimmen der Gesellschaft« verkörpert und mit ihrer schwarzen Kleidung und Halskrause an Richter erinnert. »Es gibt nur zwei Geschlechter!«, rufen sie synchron. »Die Jugend von heute hat doch nur Langeweile! Wir wollen christliche Werte! Abweichungen dulden wir nicht!«, schallt es von oben. Die Jugendlichen sollten einen Therapeuten aufsuchen.

 

»Wieso wollt Ihr einen vollkommen gesunden Menschen zum Therapeuten schicken?«, kommt es aus dem Podium zurück. Zur Bekräftigung und auch zur Ankündigung eines neuen Themenkomplexes hämmern die Frauen und Männer einen Rhythmus mit Aktenordnern.

 

»Wie steht es überhaupt um die Gleichberechtigung?« lautet die nächste Frage. Angesichts von sexualisierter Gewalt, ungleicher Bezahlung und Altersarmut bei Frauen könne davon nicht die Rede sein. Auch dazu hat Volkes Stimme eine Meinung: »Männer sind eben stärker und besser.« Um gesund aufwachsen zu können, brauchten Kinder Väter und Mütter und keine gleichgeschlechtlichen Beziehungen. »Kinder brauchen vor allem Liebe«, sagt dagegen eine Frau aus dem Podium. Per Einspieler wird Luisa zugeschaltet, die betont, dass Homosexualität noch nie eine Krankheit war, Homophobie aber sehr wohl.

 

Outing, das Bekenntnis zur eigenen Sexualität, ist oft mit negativen Erfahrungen verbunden. Die Mutter schleppt den Jugendlichen zum Arzt und zum Pfarrer, um schließlich zum Schluss zu kommen: »Du bist widerlich!« Doch, so ein Mitspieler, als Person nicht genug zu sein, weil man von der Norm abweicht, sei eines der »schlimmsten Gefühle der Welt«. Wie definiere sich überhaupt »weiblich« und »männlich«? Wie müsse man als »echter Mann« oder »richtige Frau« aussehen, sich verhalten, denken und fühlen? Ausgrenzung aufgrund von Herkunft, Persönlichkeit, Gewicht oder Religion herrsche überall. Doch, gemäß dem Stücktitel, wollen Menschen in ihrer Einzigartigkeit wahrgenommen werden. »See the real me« stehe für das Gesehenwerden nicht als Wunschbild des Gegenübers. Zumindest im Theater gibt es einen positiven Ausgang. Jemand hat ein Toleranzspray erfunden. Eine gemeinsame Party steht am Ende des Stücks. Das Publikum applaudierte minutenlang mit Händen und Füßen.

 

 

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