Der Tango-Revolutionär und sein Quälgeist

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 22.02.2020

 

Theater − Die Tonne setzt dem argentinischen Musiker und Komponisten Astor Piazzolla ein eigenwilliges Denkmal

 

REUTLINGEN. »Oben auf der Bühne war er ein Gott. Unten ein menschliches Wesen wie wir alle«, schreibt Natalio Gorin in seinen Erinnerungen an den argentinischen Bandoneon-Spieler und Komponisten Astor Piazzolla. Damit ist vieles gesagt über den Musiker Piazzolla. Und den Menschen.

 

Das Theater Die Tonne hat sich dem Tango-Revolutionär auf ungewöhnliche Weise genähert. In dem von Karen Schultze geschriebenen Stück »Spielen Sie doch mal einen Tango, Maestro!«, das am Donnerstagabend im kleinen Tonne-Saal (Tonne2) Premiere feierte, sieht sich das Publikum mit einem vollkommen aus der Bahn geworfenen Astor Piazzolla konfrontiert.

 

Er sitzt nach einem Schlaganfall gelähmt im Rollstuhl, kann weder sprechen noch sein Instrument, das Bandoneon, bedienen und muss künstlich beatmet werden. Wäre da nicht die von Maciej Szyrner (Klavier), Dessislava Stojanova (Geige) und Krassimira Krasteva (Cello) live gespielte Musik, die an sein Schaffen, seine Kreativität, seine Hingabe erinnerte, es wäre eine trostlose Veranstaltung.

 

Auch eine Art Muse, ein Quälgeist und Kümmerer, der − so die Behauptung des Stücks − Piazzolla sein Leben lang begleitet hat, trägt dazu bei, dass dem nicht so ist. Der Schauspieler David Liske spielt ihn und versucht in dieser Rolle den Abend über abzuklären, was mit dem genialen Komponisten und Musiker, der Piazzolla einmal war, noch möglich ist. Und er nimmt das Publikum mit auf eine Reise durch Piazzollas Leben, verschweigt auch die unerfreulichen Kapitel nicht. Die Anfeindungen, denen sich der Argentinier mit italienischen Wurzeln ausgesetzt sah, weil er den Tango nicht als etwas Museales begriff, sondern ihn unbändig frei gestaltete. Bis hin zur Androhung physischer Gewalt gegen ihn ging das. Sein Tango Nuevo polarisierte. Mit Diego Fischerman, einem seiner Biografen, gesprochen, war Piazzolla für die einen der Retter der Tango-Musik, für die anderen ihr Verhängnis.

 

Liske nimmt den gelähmten Piazzolla, stumm, aber ausdrucksvoll gespielt von Seyyah Inal, und das Publikum auch mit in die Kindheit und Jugend des Argentiniers, der mit seinen Eltern zeitweise in New York lebte. Ein beglücktes Lächeln erscheint in Inals Gesicht, als Liske ihm ganz nah ist und in seiner Rolle als Muse und Quälgeist vom ersten Musikinstrument, von den ersten musikalischen Gehversuchen Piazzollas spricht.

 

Dabei war das Bandoneon gar nicht seine erste Wahl, vielmehr hatter er sich als Kind eine Mundharmonika gewünscht. Die Musik, auch das wird in Karen Schultzes Stück deutlich, hat den jungen Astor Piazzolla möglicherweise vor krankhafter Spielsucht und einer kriminellen Karriere bewahrt.

 

Immer wieder legt Piazzollas Gegenüber den Finger in die Wunde, ob es nun um Piazzollas Frauengeschichten geht − die »Muse« verhinderte, dass sich der Meister zu sehr von seiner Arbeit ablenken ließ − oder um sein ignorantes Verhältnis zur Politik in Zeiten der Diktatur. Dabei beschwört der Einflüsterer (Liske) auf einer von Plattencovern gesäumten Bühne immer wieder das gute Team, das sie beide anscheinend einmal waren.

 

In der Inszenierung Enrico Urbaneks (der auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet) kommen auch den Musikern auf der Bühne stumme kleine Rollen zu. Als Frauen, die sich von Piazzolla vernachlässigt fühlen oder ihn hingebungsvoll pflegen. Als Sidekicks des redseligen, von sich selbst eingenommenen Quälgeists. Und als Tanzpartnerin.

 

Tief berührend

Vor allem aber sind es fantastische Klänge, mit denen Szyrner, Stojanova und Krasteva den Abend bereichern und erahnen lassen, welch unvergänglicher Reichtum in Piazzollas Schaffen steckt. Rhythmisch prägnant und eigenwillig − ganz Piazzolla eben! Aber auch mit melancholisch-seelenhaften Kantilenen, die tief berühren. Und was in der ersten Hälfte des Abends etwas auf die Nerven geht − Liskes gespielter aalglatter Pragmatismus − findet im weiteren Verlauf doch noch eine hinwendungsvolle, mitfühlend-menschliche Entsprechung. Nicht zuletzt, wenn Liske ansetzt, begleitet von den Musikern, Piazzollas »Ballade für meinen Tod« (Balada para mi muerte) zu singen. Am Ende hört man ein Seufzen und Schniefen im Publikum − bevor der Applaus losbricht.

 

 

Der letzte Tango in Paris

von Sissi Klapp

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 22.02.2020

 

Premiere – Die Tonne rekomponiert das Leben der argentinischen Legende Astor Piazzolla

 

Reutlingen. Astor Piazzolla (1921-1992) hat den argentinischen Tango neu erfunden und zu einer Mischung aus Tango, Jazz und Klassik so hochgejazzt, dass nicht alle Fans der argentinischen Ghetto-Tanz-Musik davon begeistert waren. Den Puristen waren Piazzollas Kompositionen zu revolutionär, zu artifiziell, zu untanzbar. »Spielen Sie doch mal einen Tango, Maestro!«, lautet deshalb der Titel des Stücks von Dramaturgin Karen Schultze, Tonne-Intendant Enrico Urbanek bringt es mit viel Musik auf die Bühne.

 

Maciej Szyrner (Klavier), Dessislava Stojanova (Geige) und Krassimira Krasteva (Cello) geben dabei nicht nur den synkopischen Tango-Takt der Biographie vor, sondern auch die abrupt wechselnden Stimmungen und Brüche in Piazzollas Leben. Der Monolog bedient sich des Kunstgriffs, ihn zwar auftreten, aber nicht für sich selbst sprechen zu lassen: Und so sitzt Seyyah Inal als gealterter Maestro auf seinem leicht erhöhten Rollstuhl-Denkmal.

 

1990 erlitt er in Paris einen Schlaganfall, konnte sich danach kaum mehr bewegen, nicht mehr kommunizieren, komponieren oder auf seinem Bandoneon zaubern. In diesem Endstadium taucht eine Muse auf, seine Eingebung, seine kompositorische Intelligenz, sein Musikgespür, gespielt von David Liske, der als Kläger und Anwalt, als »Engel und Teufel« alles gibt und assoziativ Piazzollas Leben als musikalisch unterlegte Collage erzählt: Herkunft, Werdegang, Lehrer, Einflüsse, Frauen, Lebensgefühl.

 

Es geht ums eine musikalische Experimentierfreude und Besessenheit: »Musik ist Arbeit«. Und um seinen nicht gerade einfachen Charakter: »Ich weiß, er hat es euch nicht leicht gemacht«, sagt sein Alter Ego. David Liske knipst eine Lichterkette an, dirigiert, schimpft, komponiert, tänzelt, singt und rüttelt am Denkmal. Und versucht, die Legende noch einmal ins Leben zurückzuholen. Er beschwatzt ihn, umgarnt ihn, rechtfertigt ihn, schwelgt in Erinnerungen, kocht für ihn Spaghetti mit Tomatensoße, aber zeigt vor allem seine Wut. Denn was macht eine Muse, wenn ihr Wirt dahinsiecht?

 

Piazzollas Biografie wird unterlegt von den unterschiedlichsten Farben und Stimmungen, die der Tango hervorbringen kann, von Sehnsucht, Tragik, Beschwingtheit, Melancholie, Harmonie und Lieblichkeit. Von Anziehung, Leidenschaft, Hass, Liebe Schicksal, Rhythmus und Tod. Im Tango wird sich gebeugt, gestreckt, gedehnt, gedreht, gewendet und aus der Reihe getanzt. Liskes wütender Biograf lässt Piazzolla noch einmal sein »eigensinniges« Instrument spüren, das ja »singen, jaulen und seufzen« kann. Aber das Bandoneon ist für immer verstummt. Deshalb fehlt es auch beim Tonne-Abgesang auf den Meister, dafür singen, feiern, tanzen, jauchzen, klagen und seufzen Geige, Cello und Klavier in den schönsten und schrägsten Tonlagen.

 

Schon vor seinem körperlichen Verfall war er kein einfacher Charakter, die Frauen können ein Lied davon singen. Wenn´s um die Liebe geht, dürfen Dessislava Stojanova und Krassimira Krasteva von ihrem Podest herunter und sich über ihn beschweren. Seyyah Inal wiederum muss alles still aushalten und kann sich nicht mehr wehren. Unerbittlich starrt er ins Leere, nur hin und wieder klopft er mit dem Löffel den Takt, da kann sein anderes Inneres noch so verzweifelt versuchen, mit ihm zu tanzen, ihn ans Klavier zu schieben, in der Hoffnung, dass noch was kommt.

 

Die einseitige Kommunikation lässt die Szenerie manchmal etwas statisch wirken, auch wenn die Darsteller und Musiker alles geben. Das Starre bildet einen krassen Gegensatz zur prallen Lebendigkeit von Piazzollas grenzüberschreitender Musik. Aber auf der Grenze zum Tod hat sich´s eben für immer ausgetanzt.

 

Unterm Strich

Die Tonne tanzt mit dem gelähmten Astor Piazzolla den letzten Tango, bei dem die Künstler/innen alles geben. Musikalisch sehr reichhaltiges, szenisch manchmal ein wenig künstlich wirkendes Infotainment.

 

 

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