»Me Too« auf der Tanzfläche

von Armin Knauer
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 11.02.2019

 

Tanztheater − Choreografien von Maura Morales, Yaron Shamir und Kenji Shinohe in der neuen Tonne-Spielstätte

 

REUTLINGEN. Der weibliche Körper. Von Künstler vergöttlicht, von Zuhältern verkauft, von Gewalttätern zum Objekt degradiert, im Zentrum der Me-Too-Debatte verankert. Nun schlug das Thema auch in der Tonne-Tanztheaterreihe auf, mit einer epischen Choreografie der Kubanerin Maura Morales. »Phobos«, altgriechisch für Angst, heißt ihr Stück, das fünf Tänzerinnen und ein Livemusiker im Theaterneubau umsetzten. Ergänzt durch ein Duo des israelischen Choreografen Yaron Shamir sowie einem Solo des Japaners Kenji Shinohe. Auch da geht es um den Körper. Der hinausgreift in die Welt und sich zurück sehnt (bei Shamir). Der sich aus der Internetwelt Schablonen für Gefühle borgt, sich selbst zum Avatar macht (bei Shinohe).

 

Der fremdbestimmte Körper

Bei Morales jedoch geht es ganz grundsätzlich um den Körper. Um seine Fremdsteuerung. Seine Zurschaustellung. Kurioserweise in einer Kunstform, in der seine Zurschaustellung gerade Prinzip ist. Eine Stunde lang ringen die fünf Tänzerinnen mit dieser Doppelbödigkeit: Anila Mazhari, Kalin Morrow, Paula Serrano, Latisha Sparks und Elena Valls. Mal auf sanfte Klangflächen gebettet, mal durch krachende Beats vorangepeitscht von Michio Woirgardt an den Synthie-Reglern. Während oben an der Decke Neonleuchten glimmen wie die Lichter der City.

 

Zu Beginn sehen wir die Tänzerinnen nackt, abgesehen von hautfarbenen Slips, am Boden kauernd. Fremde Wesen, die zucken wie Weichtiere vor der Entpuppung. Während eine von ihnen steht und ein sanftes Wiegenlied singt zu perlenden Klavierklängen aus dem Laptop.

 

Ein Urzustand, der alsbald umschlägt. Raue Beats knallen, die Akteurinnen schlüpfen in Kleider, werden geschüttelt vom Getriebe der Gesellschaft, zucken fremdgesteuert wie Roboter vor sich hin. Es kommt zu Kampf, Überwältigung, Zwang: Körper werden durch die Arena geschleift. Später gibt es zärtliche Annäherung, das Verknoten von Körpern, innige Verschmelzung. Zusammenrücken als Gruppe, Anlehnung, Solidarität. Wieder Ausbruch, Suche nach Autonomie und Rückkehr. Dazwischen Partystimmung, Discoklänge, Flirten, Lust am erotischen Spiel. Und als Gegenstück die inquisitorische Befragung einer Vergewaltigten.

 

Hier kommt Sprechtheater ins Spiel. Es gipfelt im Monolog einer Darstellerin, der in den Ausruf mündet: »It´s about me owning my body!« −  »Es geht darum, dass mein Körper mir gehört!« Die anderen Tänzerinnen sind dazu durch die Publikumsreihen geschritten, haben sich dabei ausgezogen, haben sich, ihrer Kollegiin zuhörend, nackt am Rand aufgestellt. Provozierend durchbricht Morales die Distanz zum Publikum, verwischt den Unterschied zwischen den Akteurinnen als Kunstfigur und realer Person. Effektvoll, aber auch etwas sehr plakativ.

 

Der ausgreifende Körper

Sei´s drum, was die fünf Frauen an körperlichem Ausdruck auf die Tanzfläche bringen, ist packend. Mal wälzt sich die Gruppe in Zeitlupe voran, mal wirbeln die Fünf in atemberaubendem Tempo, mal verbinden sie sich zu artistischen Körperkunstwerken. Dann kippt die Sache in lockeren Jazztanz, um bald wieder in archaisches Kriechen zu münden. Und immer wieder fassen sie sich and die Brüste, halten sich angstvoll fest, als wolle ihnen das Herz heraus springen. Am Ende schreitet eine von ihnen unter dem Applaus der anderen nochmal durchs Publikum − nun stolz und selbstbewusst.

 

Ein enormer Bogen, verwirrende Vielfalt, ein wahnwitziges Konglomerat, akrobatisch, kraftvoll, zärtlich, aggressiv. Aber letztlich doch zu lang, zu überfrachtet mit immer noch mehr, sodass zwischendurch der rote Faden verloren geht.

 

Unglaublich fokussiert hingegen Yaron Shamirs Duo »Holy Cows 3: Shifting«, der dritte Teil seiner Heilige-Kuh-Trilogie. Nora Vladiguerov und Tobias Weikamp dringen wie Schatten in eine von Nebel umwölkte Urlandschaft. Tanzen sich mit einer unwiderstehlichen Geschmeidigkeit den Weg frei; erobern gedankenschnell wirbelnd neue Räume − um irgendwann in sich zurückzukehren, Einkehr zu halten bei der »heiligen Kuh«, die symbolisch als Figur in einer Ecke steht. Was für eine Dynamik der Bewegungskunst!

 

Der Internet-Körper

In Kenji Shinohes Solo K(-A-)O kippt die Sache ins Clowneske, Satirische. Mit einer Pappe vorm Gesicht tritt der Japaner als wandelnder Whats-App-Smiley auf die Bühne. Leiht sich später Gesichtsausdrücke vom Handy-Display. Verwandelt sein Gesicht selbst in eine Sammlung von Internet-Emotikons. In rasendem Tempo zaubert er immer neue künstliche Ausdrücke in sein Antlitz. Entfacht mit seinen Gesichtsmuskeln einen quirligen Tanz, der das Publikum fassungslos macht.

 

Das Zucken greift schließlich auf den ganzen Tänzer über, lässt ihn akrobatisch zuckend durch den Raum flitzen. Der Mensch als Marionette seiner Internet-Gewohnheiten: Shinohe braucht nur 15 Minuten, um körperliche Fremdbestimmung so präzise wie humorvoll, so unterhaltsam wie beklemmend auf die Bühne zu bringen. Großes Tanztheater.

 

 

Riot Pussys, heilige Kühe und ein zackiger Medienkasper

von Kathrin Kipp

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 11.02.2019

 

Tanztheater − Drei höchst unterschiedliche Choreografien bei der 22. Auflage des internationalen Festivals an der Tonne.

 

Reutlingen. Volle Hütte beim 22. Internationalen Tanztheater am Wochenende im Tonne-Theater mit zwei klassisch modernen Tanzperformances sowie einem kleinen neckischen Stimmungsaufheller zum Schluss, bei dem Kenji Shinohe Emoticons ins Clowneske übersetzt.

 

Eingeleitet wurde der Abend aber mit der typisch dramatischen Tanztheater-Schwere, und zwar mit dem 60-Minuten-Stück »Phobos« von Maura Morales: »Ich wollte ein Stück über Angst machen und herausgekommen ist ein Stück über Mut«. Herausgekommen ist vor allem ein Stück über weibliche Körperlichkeit, Ängste, Bloßheit, Verzweiflung, Auflehnung und Solidarität, falls man überhaupt etwas Konkretes herauslesen möchte aus der klassisch abstrakten Mischung aus Kampfkunst, Yoga, Ballett, Bodenturnen, Pantomime und Akrobatik.

 

Die fünf Tänzerinnen erschrecken das Publikum schon beim Einlass, indem sie fast nackt im Weg herumliegen und den Effekt von Schutzlosigkeit und Verlorenheit hervorrufen. Am Rand sitzt Michio Woirgardt an Laptop, Soundmaschine und Gitarre und sorgt für entsprechende verstörende, aber auch chillige, aufwühlende und catchy E-Sounds mit viel Rhythmus, während die Tänzerinnen kriechen und fallen und diversen Störklängen ausgeliefert sind, bevor sie sich aufrichten, anziehen und dem Publikum eine schier unendliche Abfolge verschiedenster Bewegungsmuster anbieten. Abwechselnd individuell, synchron oder ineinander verknäuelt, markieren sie alles zwischen Roboterinnen und weiblicher Laokoon-Gruppe, ein geschmeidiges Zusammenspiel aus Kraft und Balance.

 

Bilder oder Befindlichkeiten?

Es kommt aber auch zu Gesang und Text, wenn sie durchs Publikum wandeln und sich wieder ausziehen: Es gehe nicht um Kleidung, sondern »um unsere Körper«, heißt es. Und der Körper ist ein Gebilde, das Kratzen, Schmerz, Leiden, Angst, Selbsthass und Krämpfe verursachen kann, aber auch jede Menge Spaß, wenn die fünf Riot Pussys als Disco-Queens Party machen. Es ist unklar, ob es hier um die Darstellung weiblicher Bilder oder um weibliche Befindlichkeiten geht, jedenfalls zieht einen die Performance optisch und akustisch gehörig in ihren Bann. Der Choreograf Yaron Shamir wiederum ist mittlerweile Stammgast beim Tonne-Tanztheater und bearbeitet mit seiner Trilogie »Holy Cow« das Fremdsein, die Neuverwurzelung zwischen verschiedenen kulturellen Werten und Identitäten.

 

Er hat vor 20 Jahren seine Offizierstätigkeit in Israel aufgegeben und ist als Tänzer und Choreograf nach Berlin gezogen. Im dritten Teil »Shifting« umtanzen Nora Vladiguerov und Tobias Weikamp eine heilige Kuh. Und setzen sich unter viel Nebel tänzerisch, körperlich und pantomimisch mit verschiedenen Wertesystemen auseinander. Innerhalb eines mit rotem Klebeband gefassten Bodenrahmens, den die beiden innerlich zerrissen und dann wieder in einträchtiger Harmonie entfernen. Auch hier sind die mal fließenden, mal zackigen Bewegungsmuster mit elektronischen Sounds und Rhythmen unterlegt, hin und wieder reißt eine Art Hundegebell das Publikum aus seiner Schau- und Lausch-Trance.

 

Kenji Shinohe zeigt am Ende dann mit »K(-A-)O« eine ganz eigene Körpersprache: als aufgeregtes Wesen rennt er zu Kindertechno hektisch und zackig über die Bühne, wie ein Clown oder eine Marionette mit einem Blatt vor dem Kopf, auf dem ein großes (-A-) steht. Was immer er uns damit sagen will, bald fällt das analoge Blatt herunter und wird ersetzt durch ein Smartphone, das die »echten« durch vorgefertigte Gefühlsausdrücke ersetzt. Und so haben wir unsere Gefühle mittlerweile digital outgesourct und unsere Mimik ausgelagert. Shinohe gibt sich als entfremdeter Robotnik, als dem Kommunikations-Overkill ausgelieferter Medienkasper, der ein ganzes Alphabet unterschiedlicher Gesichtsausdrücke zusammengrimassiert. Ein Emoji-Clown. Mal was ganz anderes und lustig anzuschauen.

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