In der Transitzone
von Michael Wanner
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 13.11.2023
Premiere – Das Jugendensemble der Reutlinger Tonne führte erstmals sein neues Stück auf. Für »Terminal 2« gab es begeisterten Applaus.
Der Schlusssatz des Stückes vor ausverkauftem Haus lautet: »Bitte lassen Sie Ihr Leben nicht unbeaufsichtigt!« Das entspricht nahezu wörtlich den Durchsagen, wie sie auf einem Flughafen zu hören sind. Und genau dort spielt die Handlung: auf dem ATR, dem Airport Tonne Reutlingen.
Dieses Setting deutete sich bereits vor Beginn der eigentlichen Aufführung an. Drei Stewardessen mit eingefrorenem Dauerlächeln empfingen das Publikum. Nach erfolgreichem »Ticket-Check« und der Kontrolle von Handtaschen gelangten die Zuschauer zu ihren Plätzen, die in L-Form am Rand der Bühne angeordnet waren. Dort blickten die Zuschauer auf den sehr trist gehaltenen Wartebereich eines Flughafens (Technik: Aurel Walker). Acht Passagiere vertrieben sich die Zeit bis zu ihrem Boarding.
Das Ensemble, das ausschließlich aus jungen Frauen besteht, führte den Flughafen als einen Ort der Grenzen vor. Eine davon verläuft zwischen denen, die einen »guten, weil richtigen« Pass haben, und denen, die in der Transitzone verharren müssen, »bis ihnen mitgeteilt wird, ob sie ein Anrecht haben, diesen Ort zu verlassen«. Die laute Eindringlichkeit, mit der die Darstellerinnen diesen Satz wiederholten, verfehlte seine Wirkung nicht.
Aber auch eine ganz andere Grenze hängt mit Flugplätzen zusammen: die Grenze des Wachstums unseres Planeten. Denn selbst die offensichtlichen Folgen des Klimawandels ändern nichts daran, dass wir weiter unbeirrt in der Weltgeschichte herumfliegen. Auch hier versuchten die Schauspielerinnen, die Dringlichkeit ihrer Botschaft durch Lautstärke zu untermauern, obwohl das an dieser Stelle nicht unbedingt erforderlich gewesen wäre.
Eine dritte Art von Grenze bestimmt, wie weit es jemandem erlaubt ist, in die Persönlichkeitsrechte einer anderen Person einzugreifen.
Hier wird die Inszenierung besonders griffig. Eine schüchterne Reisende will einfach ihre Ruhe haben. Dessen ungeachtet nötigt sie eine esoterisch angehauchte Hippiefrau zu einer befreienden Atemübung, bei der letztlich alle Passagiere eifrig mitturnen. Nur die Schüchterne fühlt sich sichtlich unwohl, hat aber nicht die Kraft, sich zu wehren.
Ihre 15-jährige Darstellerin berichtete, sie habe sich diese Rolle im Wesentlichen »selbst ausgedacht«. Aber das gesamte Ensemblestück sei ein Ergebnis intensiven Zusammenwirkens von Darstellerinnen und Spielleitung (Jana Riedel und Alice Feucht) gewesen. Wie uneingeschränkt erstere hinter ihrem Stück und seiner Aussage stehen, war der Aufführung anzusehen.
Dies galt insbesondere für die darin enthaltenen Elemente des Tanztheaters. Die Choreographien (musikalische Leitung: Michael Schneider) hatten ihre eigene Aussagekraft. War in ihnen zunächst noch die Verwirrung und Unsicherheit der Jugendlichen zu erkennen, entwickelten sie sich immer mehr zur Darstellung von Zusammenwachsen und aktivem Widerstand: Gemeinsam sind wir stark!
Wer dem Stück den Vorwurf machte, es deute Lösungsansätze für die aufgezeigten Probleme nicht einmal an, hätte in der Sache recht. Aber er wird damit der Intention der Aufführung nicht gerecht. Die Mutter einer Darstellerin brachte es auf den Punkt: Dem Stück sei gut gelungen, die Verwirrung und Ängste der Jugendlichen von heute erlebbar und einen (noch) diffusen Willen zur Veränderung sicht- und fühlbar werden zu lassen.
Nach der Vorstellung stöhnte eine der Akteurinnen erleichtert: »Ich glaube, wir können stolz auf uns sein.« Recht hat sie.