Der Teufel und der Schreiberling

von Thomas Morawitzky

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 30.11.2024

 

Bühne – Das Theater Die Tonne erzählt mit »The Black Rider« eine Geschichte vomunausweichlichen Schicksal

 

REUTLINGEN. Da steht er, Wilhelm der Schreiber, kein Förster, kein Waldmann, sondern einer, der die Flinte kaum gerade halten kann. Ausgerechnet er hat sich in die Tochter des Försters verliebt, und sie sich in ihn, die beiden wollen heiraten. Der Tag, an dem der Schreibtischtäter sich beim Schießen endgültig behaupten muss, um das Käthchen ganz für sich zu gewinnen, rückt näher. Ein Wunder geschieht: Plötzlich trifft jede Kugel, die Wilhelm abfeuert, unweigerlich ihr Ziel. Mit rechten Dingen geht es nicht zu. Die Kugeln, mit denen Wilhelm schießt, hat er vom Teufel. Und eine dieser Kugeln gehört dem Stelzfuß immer noch. Sie wird kein Glück bringen für Wilhelm, den Schreiber.

 

»The Black Rider« ist die Adaption einer Volkssage, die auch Carl Maria von Webers Oper »Der Freischütz« zugrunde liegt. Die sehr skurrile, komisch-morbide Version, die Regisseur Robert Wilson, Beat-Dichter William S. Burroughs und Musiker Tom Waits gemeinsam schufen, erlebte ihre Uraufführung 1990 am Thalia Theater Hamburg und wurde zu einem der erfolgreichsten Bühnenstücke des Jahrzehnts. Viele weitere Inszenierungen folgten,weltweit; auch das Landestheater Tübingen führte den »Black Rider« lange im Repertoire. Nun hat die Tonne in Reutlingen das schwarzromantische Musical inszeniert und setzt dabei nicht auf große Szenarien, Effekte, sondern ganz auf die Stimmen, die Mimik, die Ausdruckskraft ihres Ensembles. Entstanden ist ein sehr eigenwilliges, gelungenes Bühnenerlebnis, ein finsteres Märchen, das das Publikum in seinen Bann zieht.

 

Der Wald ist eine Kiste

 

Elizaweta Veprinskaja hat die Bühne gestaltet in der Art eines Schaukastens, überaus schlicht in leuchtendes Grün gefasst. Die Seitenwände des Kastens erweisen sich als beweglich, klappen bei Bedarf aus, schaffen verborgene Räume,
sind mit biederer Tapete bezogen. An einer solchen Wand hängt das Gewehr, flach, aus grünem Holz. Neben dem Kasten schwebt ein großer grüner Mond. Vor ihm steht schon vor Beginn des Spiels das Ensemble, von Veprinskaja fast alltäglich eingekleidet, mit Jeans und Rock und Lederjacke. Nur Wilhelm, der Hineingeschmeckte, trägt Krawatte, ein himmelblaues Jäckchen, kurze weite Stoffhosen. Der verführerische Teufel tritt zunächst noch mit blutrotem Schleier auf. Er wird sich bald zurückziehen, hinter einen halbdurchsichtigen Vorhang, eine hintergründige Präsenz, projiziert auch auf die große Mondscheibe.

 

Auf dem grünen Schaukasten sitzt das Orchester, geleitet von Johannes Wasikowski. Tom Waits’ Musik, im Original von
bizarr verzogenem Klang, gespielt von seltsamen Instrumenten, singenden Sägen, Leierkasten, gewinnt Klarheit in der Interpretation des siebenköpfigen Orchesters, besetzt mit Blech und Holz, Schlagzeug, Kontrabass, Klavier, Synthesizer, behält dabei ihren irritierenden Charakter – das Titelstück »The Black Rider« swingt diabolisch, das Ensemble tanzt, morbide Balladen, aufgekratzte Varieté-Nummern werden folgen und eine unheilvoll faszinierende Stimmung schaffen. Die Schauspieler Michael Schneider und David Liske treten abseits des Orchesters auf mit Gitarre, Banjo, Geige, Ukulele, Bilder eines zum Traumbild erstarrten Westens.

 

Ein Tanz der Geister

 

Alle Schauspieler erstarren oft zu Posen, die jedoch von bestechender Ausdruckskraft sind. Das Spiel ist eine Farce, das Schicksal nimmt unweigerlich seinen Lauf, die Akteure sind vielleicht Geister, die es ewiglich wiederholen müssen. Ihre Gesichter wirken maskenhaft, sind doch voller Leben. Michael Schneider als Bertram, Förster und Vater, steht da, ein Macho in Lederjacke, und blickt ergrimmt ins Publikum hinaus; Chrysi Taoussanis als Anne, seine Frau, die Mutter, ist ein Bündel an Energie und singt mit voller Stimme. David Liske spielt Robert, den Förster, den Käthchen heiraten soll; Magnus Pflüger ist Wilhelms Onkel, wird auch zum Autor, der sich in einer Hemingway-Parodie auf Hollywood einlässt, auf einen anderen Teufel. Richard Kipp ist Wilhelm, der unglückliche Tor, der mit seinem grünen Gewehr herumfuchtelt und sich für einen großen Schützen hält; Marlene Goksch ist das Käthchen, das so frisch und lebensfroh daherkommt und zuletzt, an der Seite des Teufels, nachdem ihr das rote Blut schon aus dem Mund rann, ein letztes wunderschönes Lied singt.

 

Den Teufel, Stelzfuß, spielt Jonas Breitstadt grandios als rätselhaft dekadenten Komödianten, als irrwitzigen, finsteren Narziss, der sich verbirgt oder mit spöttischem Lachen die Spieler umtanzt. Sie alle singen, mit schönen Stimmen, traurige, verrückte, sentimentale Lieder. William Burroughs, der Autor des »Black Rider«, schoss 1951 seiner Frau Joan Vollmer in den Kopf, als beide betrunken WilhelmTell spielten – eine Aufführung mit tödlichem Ausgang. Auf dem Theater wird aus Schrecken Schönheit – und im Theater Die Tonne vor allem wird dieses Stück, in der konzentrierten, klaren und doch enigmatischen Inszenierung von Tobias Dömer, zu einem bezaubernden Blick in den Abgrund. (GEA)

 

 

Des Sommers letzte Rose

von Matthias Reichert

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 30.11.2024

 

Premiere – Das Ensemble der Reutlinger Tonne glänzt mit dem US-Musical »The Black Rider« nach Webers »Freischütz« – der Soundtrack zum Weltuntergang.

 

Sechse treffen, sieben äffen – wer kennt nicht den Teufelspakt aus Carl Maria von Webers romantischer Oper »Der Freischütz«? Nun bringt die Tonne die US-Version »The Black Rider« auf die Bühne. Um die geliebte Förstertochter Käthchen zu gewinnen, muss Jungspund Wilhelm einen Probeschuss auf eine weiße Taube bestehen. Leider hat er vom Schießen keine Ahnung. Abhilfe verspricht ein Teufel namens Stelzfuß mit verhexten Gewehrkugeln.

 

Wilhelm ist hier ein Bücherwurm im Streber-Outfit, kurzen Hosen, Krawatte unterm Plüschpulli, gespielt von Richard Kipp. Er liebt Käthchen, die Tochter des Försters Bertram, die Marlene Goksch voll Lebensfreude verkörpert. Doch der Förster will einen echten Kerl als Schwiegersohn. Michael Schneider raunzt bärbeißig das Jägerlatein des Patriarchen, fast an der Grenze zur Karikatur.

 

Nebenbuhler im Schlägerlook

 

Die Namen werden auf der Bühne zumeist gar nicht genannt. Aber es geht ohnehin um gekonnt überzeichnete Typen. Chrysi Taoussanis ist eine souveräne Mutter und Jägersgattin. David Liske spielt eindrücklich Wilhelms Nebenbuhler Robert, im Schlägeroutfit und mit starken Gesangseinlagen. Überhaupt hat Ulrike Härter, die mit dem Ensemble die Musik einstudierte, ganze Arbeit geleistet: Alle singen wie entfesselt. Die versierte Begleitband mit Posaune, Klarinette, Schlagzeug, Klavier, Kontrabass thront oberhalb der Bühne: ein hölzerner Guckkasten, der unter Lichteffekten zu- und aufgeklappt wird (Ausstattung: Elizaweta Veprinskaja). »The Black Rider« (1990) stammt von US-Regisseur Robert Wilson, Beat-Poet William S. Burroughs und Musikikone Tom Waits. Die Reutlinger Inszenierung übernimmt viel Sprachgewalt des amerikanischen Texts; teils rezitieren die Akteure vor den Songs die deutsche Übersetzung. Liebe, Hoffnung, Trauer – große Gefühle zwischen Komödie, Gruselstück, Tragödie.

 

Ensemble geht ans Limit

 

Wann hat man zuletzt ein Musical in Reutlingen gehabt? Das Publikum gibt immer wieder Szenenapplaus. Die 90-minütige Inszenierung hat Schwung und Ideen, die Musik von Tom Waits ist so eingängig wie treffend. Gesungen wie gespielt: Das Ensemble geht unisono und solo ans Limit. »Onkel« Magnus Pflüger singt im Falsett und gibt düstere, vielschichtige Kommentare ab. Unter anderem eine Selbstreflexion von Autor Burroughs im fiktiven Dialog mit Ernest Hemingway, dessen Agent und weiteren Geiern. Regisseur Tobias Dömer inszeniert diese Schaudermär aus dem Patriarchat mit ausgeklügelter Liebe zum Detail. Vor Beginn stehen die Figuren plaudernd und kabbelnd vor der Bühne, die Band spielt Swing in Endlosschleife. Als Stelzfuß (mephistophelisch: Jonas Breitstadt) auftritt, wird gleich klar, wer hier das Sagen hat. Später wird das Teufelsgesicht seitlich auf Video-Leinwand projiziert. Man guckt ihm beim Schminken zu und ahnt schon, wie es ausgehen wird. Die teuflischen Freikugeln sind hier illuminierte Kügelchen. Mit denen führen Wilhelm und Stelzfuß einen pfiffigen Zaubertanz auf, bei dem die Kugeln leuchtend wirbeln, verschwinden, wie verhext wieder erscheinen. Später werden sie mit einer Droge verglichen, deren Konsum Erfolgserlebnisse und bleierne Depressionen auslöst. Der Teufel zeigt Wilhelm, wo die Flinte hängt. Wie im Fieber erlegt der Jung-Jäger haufenweise Mitspielende mit grünen Hirschgeweihen als Beute. Der Streber avanciert zum erfolgreichen Jäger – und scheinbar steht nun der Hochzeit nichts im Weg. Doch die entscheidende Kugel trifft nicht das angewiesene Ziel, sondern die Braut. Zum Schluss sind alle schwarz gekleidet. Nur Käthchen trägt rot und spuckt sterbend Blut. Wilhelm zerreißt es schier, ein starker Schlussauftritt des Stuttgarter Hochschul-Absolventen Kipp, ehe die aufgebrachte Sippschaft in Wrestling-Manier brutal auf ihn einprügelt. Zuletzt besingen Stelzfuß und Käthchen die letzte Rose des Sommers, ehe verdienter, tosender Applaus aufbrandet.

 

Das düstere Ende passt in eine Zeit, die scheinbar unaufhaltsam auf diverse Untergangs-Szenarien zurast. Makabres Detail: Autor Burroughs selbst hatte 1951 bei einem Unfall seine Frau erschossen.

 

34 Jahre liegen seit der Uraufführung von »The Black Rider« zurück. Das Stück wurde 1990 in der deutschen Dialogfassung von Wolfgang Wiens im Hamburger Thalia-Theater präsentiert.

 

 

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