Beklemmender Sog surrealer Bilder
von Armin Knauer
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 12.02.2018
Theater – Marc Neikrugs Musiktheater »Through Roses« über einen Holocaust-Überlebenden im Tonne-Neubau
REUTLINGEN. Diesen Musiktheaterabend wird so schnell niemand vergessen, der dort war. Zu beklemmend das Thema, zu dicht die Bilder, die Enrico Urbanek dafür gefunden hat, zu eindringlich die instrumentalen Klänge, live gespielt von acht Musikern der Württembergischen Philharmonie. Dazu das intensive Spiel von Thomas B. Hoffmann, der mit seinem Geigenkasten verloren im Niemandsland des Tonne-Saals steht, mitten unterm (stehenden) Publikum; und das Spiel von Nora Vladiguerov, Verkörperung seiner Frau, deren Bild ihn verfolgt, die ihn umtanzt, die er auf Armen trägt, die er versucht, vom Tod zurückzuholen.
Und da ist ja auch noch der Chor, in einem singenden wie in einem schauspielenden Sinn. Eine Projektgruppe, von der Stimmbildnerin Ulrike Härter zusammengestellt: Sie sind die Herren und Knechte, sind Verfolger und Verfolgte, die in suchenden, tastenden Choreografien den Raum durchmessen, ein Ärmel abgerissen, ein Arm entblößt, verletzlich, gezeichnet als Schutzlose.
Musik und Auschwitz
All dieser Aufwand für ein Einpersonenstück: »Through Roses« von Marc Neikrug, dessen kompletter Text auf fünf DIN-A-4-Blätter passt. Doch gerade diese Verdichtung lässt das Thema umso verstörender hervortreten: den Holocaust, den großen Kulturbruch der Neuzeit und mit ihm die Frage, wie so etwas geschehen kann in einer Gesellschaft, die Mozart und Bach hervorgebracht hat.
Thomas B. Hoffmann spielt mit Trenchcoat und Hut den jüdischen Musiker, der diesen Kulturbruch durchlitten hat. Der als Häftling in Auschwitz für Nazischergen aufspielen musste – und vor den Gaskammern, um die Schreie der Sterbenden zu übertönen. Wo er ein letztes Mal seine Frau sah, als man sie auf einer Bahre zum Krematorium schob. Seine Frau, deren Bild ihn nun verfolgt – und die Frage, warum er damals nicht aufgehört hat, zu spielen.
Thomas B. Hoffmann spielt ihn so, als sei mit der Unbeantwortbarkeit dieser Fragen auch jede andere Frage obsolet geworden. Sodass nichts bleibt, als eine resignierte Abgeklärtheit, hinter der sich ein unfassbarer Schmerz verbirgt.
So groß ist die Notwendigkei, sich vor diesem Schmerz abzuschirmen, dass das eigentliche Geschehen nur in Form surrealer Splitter hochdringt. Irritierende Bilder, die dem Geiger vor die Augen treten und ihn nach und nach immer mehr zum Zentrum des Traumas drängen. Es sind diese Bilder, die Urbanek als Regisseur aufgreift und in den Raum stellt, nicht illustrierend, sondern ebenfalls surreal, aber gerade darum so beklemmend.
Wobei es in der Ausstattung vn Sibylle Schulze keine Kulissen gibt. Oder besser: Der große Saal selbst ist die Kulisse mit seiner riesigen Bühnenschiebetür, die zur Waggontür der Menschentransporte wird. Das neue Gebäude, scheinbar so neutral und sachlich, wird zum Organismus, der Bilder hochsteigen lässt.
Das fängt schon mit den riesigen, auf Schichten alter Zeitungen gemalten Bildern der Künstlerin Antonia Bisig an, die Krieg, Flucht und Gewalt thematisieren. Es fängt an mit einer Vernissagensituation, die gar nicht bloß simuliert ist. Und geht fließend weiter in einen Reigen immer neuer soghafter Bilder, die oft mitten unter den Besuchern entstehen und diese mit hineinnehmen ins Geschehen.
Mitten durchs Publikum irrt verloren der Geiger, mitten hindurch wirbelt die Tänzerin als seine Frau, mitten hindurch schreiten die Chorsänger in ihren Choregografien, die Nora Vladiguerov entwickelt hat. Es sind vor allem auch diese Choreografien, die die intensivern Bilder schaffen. Nora Vldaiguerov im Hemd auf einer Bahre liegend. Die Tänzerin, vom Chor an Bäündern gefesselt. Der Chor hinter der Eisentür im Dampf des Deportationszugs.
Schicht aus feinnervigen Klängen
Hinter alldem eine Schicht aus feinnervigen Klängen, die Pianist und Komponist Neikrug entworfen hat. Fahle hohe Töne, durch die Anklänge an klassische Streichquartettmusik durchwehen wie durch einen Vorhang von Schmerz. Dazu wundersames Raunen von Gongs und Metallstäben wie ein Signum des Rätsels, das in Auschwitz Barberei und Musik am selben Ort existierten. Mit einer leidenschaftlichen Genauigkeit spielen sie das unter der Leitung von Frank Zacher: Martin Kühn an der Flöte, Martin Künstner an der Oboe, Simon Löffelmann an der Klarinette, Fabian Wettstein an der Violine, David Inbal an der Bratsche, Friedeman Dähn am Cello, Nadine Hartung am Klavier und Markus Kurz am Schlagwerk.
Der größte Geniestreich jedoch war, in jene Stellen, an denen diese Klangschicht verstummt, zarte, reine Sätze des Chors strömen zu lassen. Ein heiteres Volkslied. Einen dunklen Choral. Einen verzweifelten jüdischen Klagesang.
Unglaublich, wie rein und harmonisch Ulrike Härters Projektchor diese Gesänge anstimmt: im Stehen, im Gehen, oft verteilt im Raum – irgendwann sogar im Liegen. Es sind gerade diese zarten, reinen, innigen Gesänge, die das Unfassbare des Kulturbruchs in Auschwitz noch drastischer hervortreten lassen. Weil sie das Grauen direkt und schmerzlich unvereinbar mit dem Tröstlichen konfrontieren.
Das eigentliche Faszinosum ist jedoch, wie all diese Schichten vom Vernissagenbeginn bis zum letzten Choral in einem dichten, surrealen, schlüssigen Ganzen aufgehen. Wer erleben will, wie bildgewaltig, fesselnd, komprimiert und intensiv zeitgenössisches Musiktheater sein kann – hier ist die Gelegenheit.
Ein aberwitziger Tanz auf Leben und Tod
von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 12.02.2018
Premiere – Das Reutlinger Tonne-Theater findet in »Through Roses« von Marc Neikrug eindrückliche Bilder für das Grauen der Konzentrationslager. Philharmonie-Musiker spielen dazu den gespenstischen Soundtrack.
Ist nach Auschwitz noch Musik möglich? Könnte man, frei nach Adorn, fragen. Unbedingt, zeigt dieser Theaterabend an der Tonne. In »Through Roses« geht es um einen jüdischen Geiger, der in einem der berüchtigten Orchester das Konzentrationslager der Nazis überlebt hat. Seine Frau wurde an ihm vorbei in den Tod geschleppt. Jetzt, Jahrzehnte später, quält ihn die Erinnerung.
Acht Musiker/innen der Württembergischen Philharmonie begleiten das musikalische Drama von Marc Neikrug aus den 1980er-Jahren, das am Samstagabend seine Reutlinger Premiere hatte. Eine wahre Geistermusik: Hohe Geigen sirren wie verlorene Seelen, das Piano hämmert halluzinierend auf die Zuhörer ein, Schlagzeug wummert im Takt, dann wieder Mozart-Zitate und Marschmusik in diesem Reigen unseliger Geister.
Der Intendant als Redner
Weil die Original-Partitur nur 40 Minuten dauert, hat der Intendant und Regisseur Enrico Urbanek die Handlung aufgemotzt. Sie spielt jetzt in einer Vernissage. Im Theatersaal hängen großformatige Bilder der Schweizer Malerin Antonia Bisig, die sich mit Menschen im Krieg beschäftigen: Ein SS-Soldat im Kaukasus, deutsche Soldaten im Kosovo. Gemalt auf dicken Schichten von Zeitungspapier, historische Fotos lieferten die Vorlagen. Der Theatersaal wird zur Galerie, es gibt keine Stühle, die Zuschauer bewegen sich frei. Bevor alles beginnt, ertönen im Saal Geräusche wie im Lager: Eine Flasche zerbricht, Gelächter und Applaus ertönen, Feuer prasselt.
Noch ein Einfall Urbaneks: Ein Projektchor begleitet die Handlung (Leitung: Ulrike Härter). Der Chor singt zunächst in der Probebühne nebenan »Wir sind die Moorsoldaten«. Dieser Eingang ist ein durchsichtiger Vorhang, die Zuschauer sehen vom Foyer, wie die Sängerinnen und Sänger abmarschieren.
Zurück in den Saal, dort beginnt die Vernissage. Urbanek doziert als Redner über die Kunstwerke. Thomas B. Hoffmann als Hauptfigur mischt sich in Trenchcoat und Hut unter die Gäste. Ein Lichtkegel verfolgt ihn durch die Reihen, kein Entkommen. Und schließlich setzt die Musik ein: der Albtraum kann beginnen. Wenn er nur schlafen könnte, sagt der Geiger. Die Erinnerung kommt in Schüben. Der Bühnenraum an der Stirnseite des Saales öffnet und schließt sich als Todeskammer, Kunstnebel wabert vor einem Gemälde. Die Chormitglieder scheinen die Geister der KZ-Opfer zu spielen, die aus der Unterwelt zurückgezerrt werden. Sie Stimmen »Der Mond ist aufgegangen« an, zunächst gespenstisch gesummt, dann mit dem Text von Matthias Claudius, später singen sie »Irgendwann, irgendwo« der Comedian Harmonists – fast zynische Träume von heiler Welt angesichts des NS-Terrors. Das Grauen wird durch viele Details angedeutet: Eine große Uhr rollt durch den Saal, einer der Sänger kritzelt Statistiken auf die Tür. Kleider fliegen heraus und werden an ein Trapez gehängt, das von der Decke hängt.
Zuschauer spielen mit
»Männer nach links, Frauen und Kinder nach rechts«, ruft Hoffmann. Die Zuschauer werden Teil der Inszenierung und erleben das damalige Grauen zumindest andeutungsweise am eigenen Leib. Nochmals bittere Ironie: Ein Geburtstagsbild des Lagerkommandanten, das an einer Wand hängt, wird von den Akteuren nachgestellt. Später baut sich der Chor an der Stirnseite auf, Hoffmann zeichnet die Umrisse der Füße mit Kreide auf dem Boden nach und stellt sich zuletzt selbst in diese morbiden Fußspuren.
Und immer diese Musik. Schrill, laut, leise, anschwellende Bocksgesänge einer unerträglichen Erinnerung, erst verklingend und dann laut nachhallend. Noch ein Höhepunkt der einstündigen Inszenierung sind die Tanzeinlagen der Choreografin Nora Vladiguerov: Die tote Frau des Geigers erwacht in dessen Fantasie wieder zum Leben. Zunächst hängt sie im weißen Kleidchen am Tropf der NS-Medizinabteilung, dann tanzt sie mit Hoffmann durch die Zuschauerreihen. Sie drehen und verrenken sich, jagen und winden sich wie in letzten Krämpfen: Hier geht es um Leben und Tod. Langer Applaus.
Unterm Strich
Das Überleben im KZ als Gesamtkunstwerk – der Tonne ist eine dichte und bedrückende Collage geglückt. Ein Theaterabend, der nachwirkt, starke Leistungen aller Beteiligten. Auf Kinder im Publikum könnte dieser Drahtseilakt allerdings etwas verstörend wirken.