Süße, bittere Kunst

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 09.02.2015

 

Theater - Tonne zeigt mit »Un-Erhört« von Karen Schultze feinsinnig-berührendes Musiktheater. Darsteller, Knabensolisten, Mädchenchor und Orchester überzeugen

 

REUTLINGEN. Es sei gute Tradition in Reutlingen, das Kulturschaffende »mit- und nicht gegeneinander arbeiten«, hatte Tonne-Intendant Enrico Urbanek im Vorfeld der Uraufführung von »Un-Erhört«, der jüngsten Produktion des Theaters, gesagt.

 

Dass Urbanek selbst seit Beginn seiner Intendanz vor 14 Jahren institutions- und spartenübergreifende Kooperationen immer wieder initiiert und gefördert hat, sei an dieser Stelle ergänzt. Umso schöner ist es denn auch, wenn das Ergebnis wie bei »Un-Erhört« rundum überzeugen kann und – wie bei der Premiere am Samstag – echte Begeisterungsstürme auslöst. Tonne-Dramaturgin Karen Schultze hat als Autorin ein wunderbares Stück vorgelegt, das feinsinnig, historisch gut recherchiert und in der Verschmelzung mit der Musik und Urbaneks klarem Regiekonzept ebenso spannend wie berührend ist.

 

Historische Kostüme, ein das Barockzeitalter zitierendes Bühnenbild (Ausstattung Enrico Urbanek), barocke Bühnengesten, die klug in die Handlung eingeflochten sind, und Musik aus der Zeit, von sieben Mitgliedern des Barockorchesters Reutlingen auf historischen Instrumenten herrlich gespielt, geben der Reutlinger Produktion besonderes Flair. Und um Musik, die Petra Marianowski (Cembalo und Orchesterleitung) eingerichtet hat, geht es schließlich in dem Stück. Als Verbindungsglied verkörpert sie gleichzeitig das Trennende im Leben von Antonio und Cecilia, die unbeschwerte Kindertage in einem italienischen Bergdorf erleben – sie als Ziegenhirtin, er als junger Bauer auf dem Feld.

 

Ein Erdbeben nimmt ihnen fast alles. Sie verlieren sich aus den Augen und entsinnen sich doch stets gern der Melodie, mit der sie einander aus der Ferne riefen oder warnten. Nur dass diese Ferne eine unüberbrückbare geworden ist.

 

Privilegiert, aber einsam

Das Stück setzt ein, als der gefeierte Kastrat Angelo Carissino nach einem glanzvollen Auftritt seine Garderobe betritt. Angelo, der sich selbst »privilegiert, aber auch unendlich einsam« nennt, sieht sich mit Briefen aus dem Nachlass einer jüngst verstorbenen Nonne konfrontiert. Briefe die an ihn adressiert waren, die die Schreiberin aber zu Lebzeiten nie abgeschickt hat.

 

Es sind Briefe Cecilias, die ihren Antonio in verschiedenen Lebenssituationen wissen lässt, wie sehr sie ihn braucht, wie sehr sie sich ein gemeinsames Glück mit ihm wünscht. Spät erst wird ihr klar, dass ihr Antonio inzwischen Angelo heißt und jener berühmte Kastrat ist. Das wahrzuhaben kommt für sie einem weiteren Erdbeben gleich. Während er in den Briefen liest, erfahren die Zuschauer ihre tragische Liebesgeschichte in Rückblenden. Als Vollwaise, die prächtig singen konnte, landete Cecilia im Ospedale de la Pietà, einer Schule, an der Antonio Vivaldi lehrte. Antonio musste sich, um mit der Sangeskunst eines Kastraten die verarmte Familie zu unterstützen, mit neun Jahren für immer »entmannen« lassen. Die Kastratenschule Nicola Porporas wurde zu seiner Chance – und zu seinem Verhängnis. Am Ende entschließt er sich, einen Jungen, der selbst keine Wahl hat, vor der Kastration in Namen der Kunst zu bewahren.

 

Chrysi Taoussanis (Cecilia) und Torsten Hoffmann (Antonio) spielen hervorragend. Heinrich Beutel gibt den für die Rahmenhandlung wichtigen Gesprächspartner Antonios überzeugend. Den Knabensolisten Thomas Haas und Nick Leist zuzuhören, wie sie mit glockenhellen Stimmen Arien Georg Friedrich Händels oder Porporas singen, ist ein Genuss. Wie sie meistert auch der Mädchenchor (Chorleitung und Gesamteinstudierung Ulrike Härter), der unter anderem Teile aus Vivaldis »Gloria« und »Magnificat« singt und als Darstellerensemble gefordert ist, seinen Part mit Bravour.

 

Stark ist nicht zuletzt die Szene, in der Cecilia das Kind, das sie einmal war, im Arm hält und in der Stunde ihrer größten Not tröstet.

 

 

Göttliches auf Erden

von Bernhard Haage
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 09.02.2015

 

Dem Theater Tonne ist mit »Un-Erhört« ein unerhört schönes Stück gelungen. »Diese Libretti sind furchtbar und gehen immer am Leben vorbei«, sagt der Kastrat Angelo Carissino (als Erwachsener gespielt von Torsten Hoffmann) zu Beginn der Tonne-Uraufführung »Un-Erhört« von Karen Schultze.

 

Eigentlich heißt er ja Antonio und stammt aus einem italienischen Bergdorf übrigens genau wie Cecilia (als Erwachsene verkörpert von Chrysi Taoussanis). Und eines muss gleich einmal vorweggenommen werden, Karen Schultzes Buch geht überhaupt nicht am Leben vorbei, sondern ist von Motivwahl bis zur ausgefeilten Dramaturgie ein Glanzlicht. Vom ersten Moment an, schafft sie es, das eigentlich seltsame Kunstwesen des Kastraten so fundiert und elegant in seine Welt Einblicke geben zu lassen, dass überhaupt nichts Seltsames daran bleibt.

 

Das Göttliche bereits auf Erden nachbilden

Zusammen mit dem blütenweißen Bühnenbild mit barocken Bühnengängen und einem verspielten Eisengitter, das Regisseur und Ausstatter Enrico Urbanek ohne Furcht vor Klischees installiert hat, besteht eigentlich nur eine einzige Gefahr: Vielleicht ist die Gesamtkomposition doch etwas zu schön für diese Welt. Dafür sorgt natürlich auch die wunderbare Barockmusik, angeleitet von Petra Mariankowski und auf Originalinstrumenten gespielt von Mitgliedern des Barock-Orchesters Reutlingen. Aber genau das trifft ja den Geist des Barock: Das Göttliche bereits auf Erden abzubilden.

 

Womit wir bei dem von Ulrike Härter geleiteten Mädchenchor und den beiden Knabensopranen Thomas Haas und Nick Leist, angekommen wären. Sie erst machen „Un-Erhört“ zu einem unerhörten Erlebnis. Kathinka Beutel, Marlene Bürck, Lena Geiger, Berya Inci, Natalie Kaiser, Rebecca Kaiser, Josefine Kittel, Carlotta Rau und Madita Rumbaur müssen alle genannt werden.

 

Sie singen nicht nur toll, sondern spielen auch und haben die Aufführung im Detail mit vielen Ideen bereichert. Sehr beeindruckend ist auch der bei vielen Gelegenheiten erklingende Gesang der beiden Knabensopranisten.

 

Aber eigentlich wollte ich ja ganz vorne beginnen: Antonio (später Angelo) und Cecilia lebten und spielten als Kinder in einem kleinen Bergdorf, bis sie ein fürchterliches Erdbeben mit vielen Toten auseinander riss. Antonio wurde, der großen Armut wegen, operiert und in die Lehre des damals berühmtesten Kastratensängers gegeben. Das Waisenkind Cecilia, hatte das unglaubliche Glück, aus ausbeuterischen Magddiensten heraus vom durchreisende Komponisten Antonio Vivaldi entdeckt zu werden. Der nahm sie mit nach Venedig in seine berühmtes Ospedale de la Pietà. Hier wurden »ungewünschte« Mädchen zu hervorragenden Sängerinnen und Instrumentalistinnen ausgebildet.

 

Was Antonio nicht wusste: Cecilia schrieb ihm über all die Jahre Briefe, schickte sie aber nicht ab. Später begegnen sich die Lebenswege der beiden sogar wieder. Antonio verhinderte gar eine ungewollte Verheiratung Cecilias. Aber Cecilia brachte es nicht übers Herz, dem Kastraten ihre wahren Gefühle zu offenbaren. Erst nach ihrem Tod in einem Kloster bekam er ihre Briefe.

 

Alle Schauspieler, auch der Musiklehrer Niccolò (Heinrich Beutel), spielen stark und als wäre das nicht genug outet sich Chrysi Taoussanis am Schluss sogar noch als ausgebildete Sängerin, die eine anrührende Arie auf dem Grab der Cecilia singt.

 

Unterm Strich

Mit »Un-Erhört« ist Karen Schultze zusammen mit allen Beteiligten großes Kino gelungen. Die Empfehlung des Kritikers hat nur eine einzige Einschränkung: Das Stück ist nichts für Menschen, die schönes Theater für überflüssig halten.

 

 

Von Liebe Kunst und Tod

von Susanne Eckstein

REUTLINGER NACHRICHTEN, 09.02.2015

 

REUTLINGEN. Eine Liebesgeschichte als Musiktheater über die Singkunst: Die neue Tonne-Produktion - »Un-Erhört« von Karen Schultze - feierte am Samstag Uraufführung in der Planie. Regie führte Intendant Enrico Urbanek.

 

Ausgerechnet das Phänomen der barocken Kastraten wählte das Reutlinger Tonne-Theater zum Thema für ein eigenes Bühnenstück. Was hat das mit den Menschen hier und heute zu tun? Gemeinsam ist ihnen die Umgestaltung des Körpers und der Starkult. Gelangt heute jedoch ein Countertenor allein mittels Begabung und Schulung zur Virtuosität in der Sopranlage, wurden dafür im Italien des 16. und 17. Jahrhundert zahllose Knaben verstümmelt.

 

Unerhört war nicht nur diese durch die bürgerliche Revolution weitgehend abgeschaffte Praxis, »un-erhört« blieben auch die Briefe der von Karen Schultze erdachten Cecilia an ihre Jugendliebe Antonio, den Kastraten-Sängerstar Carissino. Diese Liebesgeschichte bildet die Handlung, dargestellt als gespielter Brief-Roman, insofern ein Kind der Romantik. Zu Beginn erhält Antonio ein Kästchen Briefe der verstorbenen Cecilia. Beim Lesen erwacht die Vergangenheit, sie wird in durchdachten und bewegenden Bildern nachgespielt, zwischen transparenten Stelen - die Mädchen teils hinter einem Ziergitter, behutsam illuminiert.

 

Berührende Momente entstehen, wenn die Knaben (Thomas Haas und Nick Leist) mit blassem Gesicht und zarter Stimme Soloarien singend ihrem harten Schicksal (»Singen wie die Stars!«) entgegensehen. Wie eine Pietà trägt der große den kleinen Sänger in den Armen, gespenstisch das Bild, wenn die Mädchen in Leichentüchern beginnen zu singen. Ein arroganter Maestro gibt Befehle aus dem Off, zwei Jungs üben gezierte Posen, während die Mädchen über Kastraten tratschen. Etwas lang geraten allerdings die Erzählstrecken des Antonio/Carissino; manche Exkurse könnte man auch weglassen.

 

Die Übergänge zwischen Brieftext und Szene sind fließend, der ständige Wechsel zwischen Imagination und Realität schafft Spannung. Erhellende Zäsuren bilden die Momente, in denen Cecilia ihre leidenschaftlichen, ja handgreiflichen Anklagen mit »in Liebe, Cecilia« beschließt. Die Tonne-Schauspieler Chrysi Taoussanis und Torsten Hoffmann gestalten ihre Hauptrollen so natürlich wie souverän. Während er sich sinnvollerweise aufs beredte Sprechen beschränkt, singt sie am Ende sogar eine Solo-Arie - um dabei, zwischen roten Kunstblüten am Boden liegend, zu sterben.

 

Ein bedeutendes Element dieser Inszenierung ist die Musik, in diesem Fall sogar originale Barockmusik von Vivaldi, Händel und anderen: Das historisch informierte Spiel des Reutlinger Barockorchesters unter Petra Marianowskis Leitung, postiert auf der Empore, verleiht ihr klingende Authentizität und Atmosphäre.

 

Die von Ulrike Härter geschulten jungen Sängerinnen und Sänger machen ihre Sache ausgezeichnet, ob im Solo, Duett oder Ensemble; die neun Chormädchen agieren zugleich als symbolstarker Tragödien-Chor nach antikem Vorbild. Die Stücke sind vorwiegend innig-schlicht und gliedern in Wiederholungen den Verlauf, die typischen Bravourarien der Kastraten wären zu schwer.

 

Un-gehört bleibt gerade das Phänomen, um das sich im Grunde alles dreht: Der betörende Gesang der erwachsenen Kastraten. Ein heutiger Countertenor oder Altus könnte einen Eindruck von dieser androgynen Kunst vermitteln. Dennoch: eine anrührende, rundum gelungene Aufführung, die mit viel Beifall bedacht wurde.

 

 

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