Im magischen Theater

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 30.1.2023

 

Bühne – Die Tonne zeigt als Uraufführung den Theaterabend »Und dieses Ei heißtWelt« nach Motiven von Hermann Hesse

 

REUTLINGEN. Der Einlass lässt am Premierenabend, der zugleich Uraufführungsabend von »Und dieses Ei heißt Welt« ist, ein wenig auf sich warten. Im Foyer werden die Zuschauerinnen und Zuschauer aufgefordert, ihre sogenannte Persönlichkeit vor der Tür abzulegen, um sie nach Bedarf später dort wieder abzuholen. Dann geht es für alle zur »anarchistischen Abendunterhaltung«, wie die Mitwirkenden raunen, in den großen Saal des Theaters Die Tonne, der mit Magie aufgeladen scheint. Es herrscht, dadaistisch bis surrealistisch mit Klängen und Projektionen angereichert, Jahrmarktatmosphäre.

 

Und auch das ist ungewöhnlich: Das Publikum,dasdenRaumdurchquert, findet auf allen vier Seiten Stuhlreihen vor, auf die es sich verteilt – folglich mit ganz unterschiedlichen Perspektiven auf das mal mittig angesiedelte, mal auf den ganzen Raum verteilte Geschehen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben Mikrofone, sodass man sie von jedem Platz aus gut hört.

 

Besondere Paarkonstellationen

 

Regisseur Benedikt Grubel, von dem auch die Textfassung stammt (Dramaturgie: Michel op den Platz), hat den Theaterabend nach Motiven von Hermann Hesse mit Texten aus »Demian«, »Der Steppenwolf« und »Narziß und Goldmund« im »magischen Theater«, wie es im »Steppenwolf« vorkommt, angesiedelt. Das Publikumist ganz selbstverständlichTeil davon, ist an einer Stelle im Stück auch explizit aufgefordert, in sich hineinzublicken. Der Anregung, sich für die zweite Hälfte einen anderen Platz, eine neue Perspektive zu suchen, folgen so gut wie alle. Anders, als der Theaterraum zur Tanzfläche erklärt wird – da trauen sich an diesem Abend nur einzelne.

 

Ausstatterin Caroline Stauch hat mit die Fantasie beflügelnden Kostümen, Masken und Kulissen einen nach allen Seiten hin offenen Bühnenraum geschaffen, der auf weißen Vorhängen Projektionen von wie durch Zerrspiegel verfremdeten Gesichtern der Akteurinnen und Akteure erlaubt. Diese Trennelemente können aber auch im Nu wieder verschwinden, um neuen Sensationen im Traum- oder Möglichkeitsraum Platz zu machen.

 

Auch auf der musikalischen Ebene, zu der alle Schauspielerinnen und Schauspieler beitragen, vom Beatboxing über die Klangschale bis hin zu Geige und Klavier, auch Klaviersaiten, die, quer durch den Raum gespannt, zum Schwingen gebracht werden, brechen sich immer wieder neue Stimmungen Bahn. Michael Schneider hat sich das Konzept dafür ausgedacht, sorgt für ein magisches Grundrauschen.

 

Benedikt Grubels Inszenierung wirft Schlaglichter auf besondere Paarkonstellationen in Hesses Werken, nimmt Textstellen collagierend Menschen, Figuren in den Blick, die, wenn man den Autor ernst nimmt, wie verschiedene Ausformungen derselben Seele erscheinen. Die einander Ergänzung, Herausforderung oder Halt und Stütze sind. Gleich zu Beginn lernen wir Emil Sinclair (David Liske) kennen, der als Junge gemobbt und zutiefst eingeschüchtert wird. Bis Max Demian (Santiago Österle) auftaucht, der ihm nicht nur existenzielle Ängste nimmt, sondern ihn auch ermutigt, Neues und Unerhörtes zu denken.

 

Narziß und Goldmund (Michael Schneider und Roswitha John) begegnen Im magischen Theater uns wie mit einer Nabelschnur miteinander verbunden. Sie lernen ihre Verschiedenartigkeit bei gleichzeitiger Zugewandtheit kennen. Keiner von beiden kann aus seiner Haut, doch hilft dem, der dieWelt mitdemGeist begreifen will, dass der, den es drängt, sie mit den Sinnen zu erfahren, da ist. Und umgekehrt.

 

Gedankenschwere Texte

 

Den vielleicht längsten Weg hat Harry Haller, der selbst ernannte Steppenwolf, vor sich. Michel op den Platz kann ihm an diesem Abend nicht ganz die tiefe Traurigkeit geben, die diese Hesse-Figur ausmacht. Der Tonne-Dramaturg hat erst vier Stunden vor der Premiere die Rolle übernommen, die krankheitsbedingt plötzlich unbesetzt war. Dafür macht er seine Sache hervorragend.

 

Auffallend ist, wie wunderbar auf Augenhöhe die Mitwirkenden aus dem inklusiven Ensemble der Tonne mit den gestandenen Bühnenprofis agieren. Santiago Österle ist ein ausgesprochen charismatischer Max Demian, Roswitha John ein Goldmund, dem man die Lust an der Welt und die Sinnenfreude abnimmt.

 

Kristin Scheinhütte fährt als androgyne Hermine mit hinreißender Spielfreude alles auf,was Harry Haller aus seiner hüftsteifen Lethargie zu holen geeignet ist. Sie ist für ihn eine (Ver-)Führerin zu neuen Erfahrungen. »Wie kannst du sagen, du habest dir mit dem Leben Mühe gegeben, wenn du nicht einmal tanzen willst?«, gibt sie ihm zu verstehen. Und, dass er sie eines Tages werde töten müssen.

 

Dass kein Mensch jemals wirklich ganz er selbst gewesen ist – ja, das hätten sie nun verstanden, richten die Figuren aus dem Stück am Ende im Chor fast ein bisschen genervt an Hermann Hesse. Doch das ist nur eine Erkenntnis dieses Abends. Andere mag jeder selbst für sich finden. Etwa, dass Theater, das sich an so gedankenschweren Texten versucht, leicht scheitern kann. Tut es in diesem Fall aber nicht. Der Tonne gelingt ein sinnlich und emotional packender Theaterabend mit starken Schauspielleistungen. Das Premierenpublikum dankte den Mitwirkenden mit tosendem Applaus. (GEA)

 

 

Magischer Hesse: Der Eintritt kostet den Verstand

von Matthias Reichert

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 30.1.2023

 

Premiere – Benedikt Grubel gestaltet an der Reutlinger Tonne ein effektvolles Potpourri aus zentralen Motiven dreier Erfolgsromane des Literaturnobelpreisträgers. So schön kann Postmoderne sein.

 

Die Inszenierung beginnt bereits am Einlass. Das Publikum wartet vor der stählernen Theatertür auf den Beginn, da treten zwei Kostümierte mit Rasseln hervor: Willkommen im magischen Theater, »bitte legen Sie Ihre so genannten Persönlichkeiten an der Eingangstür ab«, der Eintritt kostet den Verstand. Die Leute betreten im Saal ein Labyrinth aus durchsichtigen weißen Vorhängen, gespenstische Musik erklingt, die Platzsuche wird zum Abenteuer (Ausstattung: Caroline Stauch).

 

Vorhänge auf! Der schwungvolle Start im surrealen Spiegelkabinett nimmt den Abend vorweg: Gekonnte Effekte gestalten eine eher dünne Handlung, die Texte und Sprachkunst Hermann Hesses in den Vordergrund spielt. Regisseur Benedikt Grubel verwebt dramatische Grundkonstellationen aus dessen Büchern »Demian«, »Der Steppenwolf«, »Narziß und Goldmund« zu einem temporeichen Kurzstück unter dem Titel »Und dieses Ei heißt Welt«.

 

Es geht jeweils um zwei gegensätzliche Hauptfiguren und deren Freundschaft. Zunächst hilft der geheimnisvolle Max Demian (Santiago Österle) seinem Kumpel Emil Sinclair (David Liske) gegen die Übergriffe einer jugendlichen Diebesbande, die ihn quält. Sinclairs Lebenserzählung wechselt zur Daseinsqual des 50-jährigen »Steppenwolfs« Harry Haller, den die androgyne Hermine (Kristin Scheinhütte) im magischen Theater ins Leben zurückholen will. Den Steppenwolf spielt Tonne-Dramaturg Michel op den Platz im grauen Wolfspelzmantel, er ist kurzfristig für die erkrankte Gabriele Wermeling eingesprungen. Chapeau für die Flexibilität!

 

Der dritte Erzählstrang beleuchtet die Lebens-Freundschaft von Narziß (Michael Schneider) und Goldmund (Roswitha John), die sich in phantastischen Kostümen am roten Strang ein philosophisches Tauziehen liefern. Weise Sentenzen (»Der Mensch ist wie eine Zwiebel aus hundert Schalen, kein Ich ist eine Einheit«) wechseln mit selbstquälerischen Monologen. Tiermasken symbolisieren multiple Persönlichkeiten. Der Steppenwolf versucht, sich mit dem Rasiermesser die Kehle durchzuschneiden.

 

Die Figuren üben Kulturkritik, sinnieren über wahre Freundschaft, Gott und die Welt. Schneider begleitet die Inszenierung mit wimmernder Geige und jaulendem E-Bass, zitiert Tanzmusik, Haydn und Schubert; Liske spielt Klavier, Österle gibt den Takt vor. Zwischendurch dürfen sich die Zuschauer in Reglosigkeit üben. Liske mutiert zum Yoga-Lehrer und fragt nach den Meditationserlebnissen des Publikums, das sich dann mit dem Ensemble im Tanz drehen darf. Tanzen sei ja so einfach wie Denken, spornt Hermine ihren Harry und die Zuschauer an. Später dürfen diese die Plätze und die Perspektiven wechseln, wozu Scheinhütte in einer Art Gladiatorenkostüm aufruft.

 

Das berühmte Steppenwolf-Traktat zitiert innere Zerrissenheit herbei. Doch Harry bestehe nicht nur aus Wolf und Mensch, sondern ebenso aus Fuchs, Drache, Affe und Paradiesvogel, erklärt Hermine. Und nun zirpen, gackern, krähen die Ensemblemitglieder tierisch maskiert.

 

Raunende, bedeutungsschwere Hesse-Zitate voller Weltverachtung zerfasern im postmodernen Nirwana. Sinclair läuft einem Trauerzug hinterher und legt sich selbst in den Sarg, Goldmund sinniert auf einer Matte daneben über Kuss und Hingabe. Scheinhütte schmettert einen mondänen Chanson und analysiert ihren Harry vom Durchgang unterm Theaterdach. Und alle malen wie verrückt abstrakte Bilder.

 

Zuletzt bricht krachend der Krieg aus, gestaltet mit Lichtprojektionen und Schwarz-Weiß-Grimassen-Fotos auf den wieder vorgezogenen Vorhängen. Harry ersticht Hermine auf deren Wunsch – doch nur Theaterblut fließt; der Steppenwolf wird vom Bühnen- Tribunal dazu verurteilt, das Leben und das Lachen zu lernen.

 

Unterm Strich

 

Kann man anschauen, Gänsehaut inklusive. Letztlich freilich ist diese Collage nur bedeutsam klingende, aus den Romankontexten kondensierte weltschmerzliche Betroffenheitsprosa des Literaturnobelpreisträgers, wie wir sie in der Pubertät geliebt haben, effektvoll und bühnenwirksam aufbereitet. Magischer Anti-Realismus: Wer braucht schon eine Handlung, wenn er aus drei Klassikern zitieren kann?

 

 

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