Alptraum und Vision

von Christoph B. Ströhle
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 27.01.2018


Theater – Heiner Kondschaks »Von Weimar bis Merkel« überzeugt an der Tonne musikalisch und schlägt politische Töne an

 

REUTLINGEN. Es habe viele Diskussionen mit dem Ensemble gegeben, die »über de normalen Proben hinausgingen«, hat der Autor, Regisseur und musikalische Leiter Heiner Kondschak über die Vorbereitungen zu seinem neuen Stück »Von Weimar bis Merkel« gesagt, das in gut zwei Stunden Spielzeit den Bogen deutscher Geschichte von 1918 bis heute schlägt.

 

Der Leichtigkeit hat das keinen Abbruch getan. Vielleicht aber ist der eine oder andere ernste, bittere oder visionäre Moment hinzugekommen. Am Donnerstagabend war Uraufführung im großen Saal des Reutlinger Theaters Die Tonne. Der Jubel am Ende der Eröffnungspremiere des neuen Hauses fiel gigantisch aus.

 

Politisch – zwischen den Zeilen oder ganz offen - wird es immer wieder mal, vor allem zum Ende hin, als das Ensemble die aktuellen deutschen Rüstungsexporte anspricht. Natürlich würden Waffen nicht in Krisenregionen geliefert, heißt es da offen sarkastisch – unter humanitären Gesichtspunkten aber helfe man gerne. Und dann wird die Frage gestellt, ob, wenn es denn ein Flüchtlingsproblem gibt, das nicht auch mit in Oberndorf am Neckar und anderswo in Deutschland gefertigten Waffen, die kursieren, zu tun hat.

 

Am Ende steht Konstantin Weckers eindringlich-träumerisches Lied (von Heiner Kondschak auf der Mundharmonika begleitet) »Es ist eine grenzenlose Welt, in der ich leben will«.

 

Jubel am Balkon

Mit Stephanie Brehme, Christian Dähn, Thomas B. Hoffmann, Wolfram Karrer, Heiner Kondschak, David Liske, Veronika Reichard-Bakri und Nina-Mercedés Rühl bringt das Theater ein wunderbares Ensemble auf die Bühne, das glänzend unterhält und sich streckenweise verausgabt.

 

Es ist vor allem ein musikalischer Abend, den Kondschak (Piano, Gitarre, Mundharmonika), Karrer (Akkordeon, Saxofon) und Dähn (Schlagzeug, Singende Säge) als wandlungsfähige Combo gestalten. Das Schauspielensemble singt und spielt dazu, nachdem sich alle eingangs als Menschen von heute vorgestellt haben, die in Rollen aus 100 Jahren deutscher Geschichte schlüpfen. In einem in bestem Sinne kabarettistischen Spiel geschieht dies. Da mimen alle die Kriegsversehrten, die in Hanns Eislers »Ballade von der Krüppelgarde« singen, ihr Leutnant komme von den Toten und »unser Hauptmann hat einen Stumpf«. Ein Tennis spielender Wilhelm II. meldet sich aus dem niederländischen Exil zu Wort. Er will nicht verstehen, warum er zur Abdankung gezwungen wurde.

 

Das Schlagzeug ist immer dann gefordert, wenn wieder mal ein Putsch beginnt oder beendet wird. Und derer gibt es viele in Deutschland in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, von extrem links bis extrem rechts. Hinzu kommen politisch motivierte Morde wie die an Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Walther Rathenau.

 

Flugblätter der »Weißen Rose« fliegen vom Balkon (mit dem echten Wortlaut, wie sich in der Pause entdecken lässt). Da ist es längst dunkel geworden im Saal. Der Applaus zur Pause fällt schwer – mit dem Hakenkreuz im Scheinwerferlicht mitten auf der Bühne. Veronika Reichard-Bakri hat da gerade noch schlicht und berührend das Lied »Donna Donna« gesungen, während ein strammer Nazi den Juden das Menschsein abgesprochen hat.

 

Nach der Pause findet eine kollektive Verdrängung auf offener Bühne statt. Und eine Verklärung, die in den Worten Alexander Gaulands, wonach die Deutschen stolz sein dürften auf die Leistungen deutscher Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg, bis ins Heute reicht.

 

Adenauers widersprüchliche Haltung zur Wiederbewaffnung bringt das Ensemble ebenso auf den Punkt wie Walter Ulbrichts Scheinheiligkeit, was den Bau der Berliner Mauer betrifft.

 

Umbrüche, Zusammenbrüche, Aufbrüche – wie ein roter Faden ziehen sie sich durch 100 Jahre deutsche Geschichte. Das Publikum erlebt die Vermessung der deutschen Teilung mit, darf Hans-Dietrich Genscher im September 1989 auf dem Balkon der Prager Botschaft jubelnd unterbrechen und wehmütig an Zeiten denken, als »Wetter noch kein Klima war«, man, wo man wollte, einfach so rauchte und Bier anstelle von Bananenhefe mit Lemon trank. Der gefallene Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer darf über Fußball-Deutschland und – da war doch noch was – den Rest der Welt räsonieren, und neben Udo Lindenbergs »Mädchen aus Ostberlin« schaffen es auch Lieder wie »99 Luftballons« und »Tausendmal berührt« in Form eines Potpourris ins Programm.

 

All das spielt sich zu Füßen eines angedeuteten Brandenburger Tors ab, wirkt wild, aber längst nicht beliebig zusammengestellt. Na ja, vielleicht ist dann doch etwas viel hineingepackt. Seveso, Tschernobyl, die Twin Towers, sie kommen in Stichworten vor. Dafür dürfen die Scorpions und David Hasselhoff – jeder für sich – musikalisch die Mauer einreißen. Ah ja!

 

Ein liederliches Jahrhundert

von Kathrin Kipp
REUTLINGER NACHRICHTEN, 02.02.2018

 

Nie wieder – oder wenigstens nicht gleich: Ob die Deutschen ein waffen-, kriegs- und diktaturlüsternes Völkchen bleiben, ist abzuwarten. Fest steht, dass sie Meister der Verdrängung sind und sich offenbar von jeder noch so schlimmen Katastrophe tapfer erholen. Und es immer geschafft haben, für jede Situation ein passendes Lied zu erfinden. Heiner Kondschak hat diese so repräsentativen wie sonderbaren Lieder für seine musikalische Geschichtsstunde zusammengestellt und das ganze Jahrhundert durch den musikalisch-szenischen Durchlauferhitzer gejagt.

 

Nicht weniger als das Brandenburger Tor hat man dafür in den Tonne-Neubau geschafft, leider ist das stolze Gebäude jetzt doch zu klein geraten: Die Quadriga passte nicht mehr rein. Dafür sitzt in der Ecke ein mindestens genauso flottes Trio aus Heiner Kondschak (Gitarre, Keyboard), Wolfram Karrer (Akkordeon, Saxophon) und Christian Dähn (Schlagwerk und singende Säge) und spielt sich am vergangenen Jahrhundert die Finger wund, während die Schauspieler singen, tanzen und erzählen. Wie am 9. November 1918 gleich zwei Republiken ausgerufen wurden. »Leute, genießt die Nachkriegszeit, denn bald ist wieder Vorkriegszeit«, heißt die Devise, und die Leute feiern mit Charleston, Foxtrott, Tango und Kokain. Aber nicht alle können mitfeiern: Die Armee der Armen und Armlosen tritt auf: »Wir sind die Krüppelgarde« und bläst zum Versehrten-Marsch. Aber bald ist es wieder so weit: »Weil wir dem Frieden nicht trau’n, wird auf die Pauke gehau’n«.

 

Zeitgeist und Stimmung

Die zentralen Ereignisse und Sprüche der deutschen Geschichte sind zwar allbekannt, aber Heiner Kondschak hat dafür einen tollen Soundtrack zusammengestellt für seine Revue, der in Text und Musikstil den jeweiligen Zeitgeist und die Stimmung repräsentiert: lustige, freche, sehnsüchtige, traurige und seltsame Lieder, die oft nur taktweise anzitiert werden. Und so geht es Schlag auf Schlag, Stephanie Brehme, Thomas B. Hoffmann, David Liske, Veronika Reichard-Bakri und Nina-Mercedés Rühl stellen sich im fliegenden Wechsel zu originellen Stellungsbildern zusammen, liefern sich neckische Szenen, knackige Dialoge, vielsagende Choreos. Sie erzählen nicht nur von Revolution, Weltwirtschaftskrise und den aufstrebenden Nazis, sondern auch, wie die jungen Frauen sich langsam emanzipieren, in die Lesbenclubs gehen, aber auch in die Charité, für gewisse Schönheitskorrekturen. Nur »wegen mei’m Emil sein unanständge Lust«, wie Nina-Mercedés Rühl singt. Man hat aber auch einen Geheimtipp bezüglich des kriegsbedingten Männermangels: »Nehm’ Sie nen Alten«, bezirzt Thomas B. Hoffmann die Damenwelt. Und so singt man beschwingte Schlager, während Deutschland sich wiederbewaffnet, während Aufbruch und Depression, Verdrängung, Nationalneurose, Demokratieversuch und Putsch bis in den kollektiven Wahnsinn des Dritten Reichs führen. Im Stück erzählt als Märchen vom großen tüchtigen Volk, das mit seinem Erfolg alle Nachbarn beglücken wollte. Was 50 bis 80 Millionen Todesopfer gefordert hat.

 

Trotzdem wollen heute bestimmte AfDler wieder stolz sein dürfen »auf die Leistung deutscher Soldaten« in den Weltkriegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg dann heiße Schwüre: »Nie wieder!«. »Na, wenigstens nicht gleich«. Aber immerhin kommt es zum Grundgesetz: Das Ensemble gruppiert sich an der großen Tafel zu Da Vincis’ Heiligem Abendmahl mit Heiner Kondschak als Messias, der die wichtigsten Artikel zitiert. Den legendären Fußballkommentar vom Endspiel 1954 gibt’s als erotische Eruption der drei Schauspielerinnen. »Wir sind wieder wer«. Aber wer? Nazis, die sich mit »Grün ist die Heide« heimatbetümeln? In der Wirtschaftswunderzeit fahren die Deutschen nach Italien, um Urlaub zu machen und die Italiener kommen nach Deutschland, um zu bleiben: »Oh Tina, Oh Marina«. Zumindest im Westen, während sich der Osten eine schicke Mauer leistet, an der ein Löwenzahn sein Lied singt.

 

Später liefern sich Hippies und Rocker einen Sängerstreit. »Die 68er sind an allem schuld«, singt Kondschak. Auch an der Neuen Deutschen Welle? Das Ensemble huldigt ihr mit einem Medley. Kanzler Kohl gelingt derweil alles, nicht nur die Wiedervereinigung, sondern auch die WM ´90. Da grätscht Rio Reiser dazwischen: »Der Traum ist aus«. Aber auch Nicole, mit ihrem »bisschen Frieden« – die Band verlässt aus Protest den Saal. Bis die Deutschen schließlich ins »Finsterste Mutti-Alter« geraten, mit Angela Merkel, die uns bekanntlich alle schafft. Die Zeit der großen Utopien und Visionen ist vorbei. Oder doch nicht? Für die Jahrhundertshow gibt’s jedenfalls sehr viel Applaus.

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