Leben zwischen Poesie und Politik

von Jürgen Spieß

REUTLINGER NACHRICHTEN, 2.11.2021

 

Reutlingen – Das Solostück »Walking around (Lustwandeln) mit Neruda« feierte im Spendhaus Premiere und zeichnete ein authentisches Bild des Dichters aus Chile.

 

Das Leben von Pablo Neruda auf 90 Minuten komprimiert: Am Freitag feierte der emotional aufgeladene Monolog »Walking around (Lustwandeln) mit Neruda« im Spendhaus seine Uraufführung. Daniel Tille spielt den chilenischen Dichter, Literaturnobelpreisträger und politischen Kämpfer in der Inszenierung von Tonne-Intendant Enrico Urbanek. Dazu gab es Musik von Andrej Mouline an den Handzuginstrumenten Bandoneon und Bajan.

 

Ruheloser Globetrotter

 

Ein Mann mit einem Gesicht, das immer zu lächeln scheint, auch wenn es ernst dreinschaut. Ein Mann mit einer poetischen und bildgewaltigen Sprache, der als Kind der Stiefmutter ein erstes Gedicht widmet, als 13-Jähriger den ersten Artikel veröffentlicht und mit 19 sein erstes Buch.

 

Ein Mann, der die wilde und sinnliche Natur Chiles liebt und doch sein halbes Leben lang ruhelos um den Globus reist, als chilenischer Konsul in Rangun, Colombo, Batavia, Singapur, Buenos Aires, Madrid und Mexiko-Stadt lebt und von Paris aus die Verschiffung von 2000 spanischen Flüchtlingen nach Chile organisiert.

 

Ein Mann, der sich als Kommunist bezeichnet und nicht nur in seinen Gedichten, sondern auch als Politiker eine Utopie für mehr Menschlichkeit und Solidarität beschwört.

 

Pablo Neruda war ein Mann mit vielen Gesichtern, der sein ganzes Leben lang zwischen Utopie und Realismus, zwischen Poesie und Politik und zwischen Fern- und Heimweh schwankte und in seiner Dichtkunst die Sinnlichkeit der Liebe und die unerschöpfliche Schönheit des Seins erforschte. Aus diesem Widerstreit entspinnt sich in neunzig atmosphärisch dichten Minuten eine packende und intensive Performance, in der Daniel Tille sowohl schauspielerisch als auch sprachlich überzeugt. Der Tonne-Schauspieler ist Erzähler, Kommentator und Protagonist zugleich

 

Gegen Dogmen und für die Liebe

 

Seine Darstellung ist gespickt mit komplizierten Texten und Gedichten, ein Plädoyer gegen Dogmen und Vorurteile und für die Liebe und das Leben: »Ich mag deine Füße, weil sie über Erde gelaufen sind und über windgepeitschtes Land und Gewässer, bis sie mich gefunden haben«. Dabei lässt Daniel Tille Nerudas Leben auf einer beweglichen und von Iskra Jovanović-Glavaš gestalteten Bühne vorüberziehen, die einer Art Riesenkompass nachempfunden ist. An den Polen sind vier weibliche Puppen platziert, die für die prägenden Frauen in Nerudas Leben stehen.

 

Wie etwas Matilde Urrutia, die ihn die letzten 18 Jahre bis zu seinem mysteriösen Tod kurz nach dem Putsch seines Widersachers Pinochet begleitete.

 

Was ebenfalls beeindruckt: Die Bühnenversion löst die Texte und Gedichte von Pablo Neruda nicht in bemühten Spielszenen auf.

 

Vielmehr gibt der Akteur seine Sehnsüchte und Konflikte erzählend preis und verausgabt sich dabei bis zum Äußersten. Er schreit seinen Frust über die Ungerechtigkeiten der Welt hinaus, wandelt Neruda-Gedichte rezitierend durch die Publikumsreihen, jongliert politisierend mit mehreren Quitten, die ihn wie sein mit Wörtern vollgekritzelter Mantel überall hin begleiten. Eine zentrale Rolle spielt auch die Musik, die von dem etwas abseits sitzenden Andrej Mouline am Bandoneon und dem russischen Knopfakkordeon Bajan dargeboten wird.

 

Kampflieder als Soundtrack

 

So abenteuerlich und multikulturell wie das Leben Nerudas gestaltet sich auch das Repertoire des Akkordeonisten, das sich von Argentinien über Chile und Paris bis zum Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung, »Die Internationale«, erstreckt. Er beherrscht die beiden Quetschkommoden in allen Lagen, ob er nun eine Musette, einen Tango oder einen französischen Chanson anstimmt.

 

Enrico Urbanek hat in »Walking around mit Neruda« ein komplexes Leben auf neunzig spannende Minuten heruntergebrochen, mit einem Darsteller, dem dieses Stück nicht nur sprachlich, sondern auch körper-sprachlich einiges abverlangt. Am Ende gibt es lang anhaltenden Beifall für eine exzellente Darbietung inklusive musikalischem Mehrwert.

 

 

Ein Dichter und Politiker dreht am Rad

von Kathrin Kipp

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 2.11.2021

 

Bühne – Die Tonne zeigt einen biografischen Abend mit Daniel Tille als Pablo Neruda und Andrej Mouline am Bandoneon

 

Reutlingen. »Im Grunde war ich ständig auf der Flucht.« Oder sollte man besser schreiben: »Das Leben steckt voller Überraschungen«? Schauspieler Daniel Tille als chilenischer Dichter, Politiker, Kommunist, Konsul, Reisender, Flüchtender ist auf der Suche nach einer Überschrift für sein Leben.

 

Der Monolog, für den die Tonne vorübergehend ins Kunstmuseum Spendhaus gezogen ist (von der dritten Vorstellung an geht’s in den Spitalhofkeller), trägt die Überschrift: »Walking around (Lustwandeln) mit Neruda«. Daniel Tille selbst hat die Texte zusammengetragen und bearbeitet, Enrico Urbanek hat den lebhaften Monolog so temperamentvoll wie poetisch in Szene gesetzt.

 

Zusammen mit Ausstatterin Iskra Jovanović-Glavaš setzt die Tonne dem Dichter ein Denkmal in Form eines vielsagenden Karussells, auf dem vier Frauen kreisen, als mehr oder weniger freizügig gekleidete Galionsfiguren, auf deren Rücken sich der Dichter abstützen kann, de er herzen, bewundern und bedichten kann. Die aber auch, wie er erzählt, um ihn herumschleichen mit dem Messer in der Hand und überlegen, ihn zu töten. Sehr viel ist von den Frauen nicht die Rede im Stück: »Ich bitte die Opfer meines Glücks um Vergebung.« Aber im Bühnenbild sind sie immer präsent. Tille benutzt sie als Schreib- und Rednerpult, nicht erst, als er 1971 seine Nobelpreisrede hält: auf das Leben, die Würde, die Freiheit, für die er immer gekämpft hat. Aus den Schulterkästchen der Figuren holt sich der Dichter Schnaps oder Quitten, mit denen er jongliert wie mit den Natur- und Landschaftsmetaphern in seiner Lyrik.

 

So ziehen sich verschiedene Motive durch die Theaterbiografie von Daniel Tille: die Frauen, das Karussell, auf dem der unstete Neruda seine Runden dreht. Oder auch mal durchdreht. Der Koffer, mit dem er auf Reisen oder auf der Flucht ist. Sowie der schmutzig weiße Trenchcoat, auf den er seine Zeilen kritzelt.

 

Liebe, Sehnsucht, Schnaps

 

Während der Dichter nach einer Überschrift für sein Leben sucht, sucht neben der Bühne Bandoneon- und Bajanspieler Andrej Mouline nach dessen Soundtrack. Fündig wird er im »Libertango« von Piazzolla: feurig, groovy, traurig, übermütig, temperamentvoll, dramatisch, sehnsüchtig, sentimental. Als Neruda sich politisiert, am ganz großen Rad drehen will und von den einfachen Leuten »ohne Schule und Schuhe« gewählt wird, ertönt die »Internationale«. Die aber bald wieder verstummt, als sich Präsident Videla zum Antikommunisten wandelt.

 

Später geht Neruda nach Frankreich, hilft dort den »spanischen Brüdern« auf der Flucht vor Franco. Immer auf Reisen, aber immer auch voller Sehnsucht nach Chile treibt er »Wurzeln in die Finsternis«, »unschlüssig ausgestreckt, schwankend vor Müdigkeit«. Er besingt die große Einsamkeit, hat manchmal »das Menschsein über«, und schickt in seiner Liebe zu den Frauen und zur Natur auch den ein oder anderen kitschigen Vers in die Welt.

 

So pathetisch seine Sprache im Stück, so expressiv Daniel Tille, wenn er als Ich-Erzähler Nerudas Gemütsschwankungen und Gefühlsausbrüche exzessiv durchexerziert: Sturm, Angst, Liebe, Sehnsucht, »Blut und Dunkelheit«, Höhen, Tiefen, Freundschaft und Schnaps.

 

Pablo Neruda hat als Wanderer zwischen den Welten Diktaturen und Weltkriege, kommunistische, militärische, kapitalistische und demokratische Feldversuche gesehen. Und dabei politisch wie privat mit viel Herzblut gelitten, gekämpft und gedichtet und verdichtet: »Ich bekenne, ich habe gelebt.«

 

 

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