Die Planie als Gesamtkunstwerk
von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 25.02.2017
Premiere - Mit Theaterspaziergang und Textilgeschichte verabschiedet sich die Reutlinger Tonne in »Was das für Zeiten waren« von ihrer langjährigen Spielstätte.
Rund 500 Kilometer ist Uli Schönhaar für diese Premiere am Donnerstag angereist. »Mein Vater war 27 Jahre in der Heinzelmann-Fabrik tätig. Er war der letzte Verkaufsleiter.« Der Sohn hat heute eine Firma in Solingen - und gehört zu den Zeitzeugen, die von der Tonne für die neue Produktion befragt worden sind. Um den Abschied von der langjährigen zweiten Spielstätte in der Planie 22 würdig zu inszenieren, belebt die Reutlinger Bühne mit einem Theaterspaziergang die alte Fabrik zu neuem Leben.
Im Schwimmbad, wo einst die Badeanzüge getestet wurden, spiegelt sich eine Lichtprojektion der Tübinger Firma Casa Magica, die Schauspielerinnen Silvia Pfändner und Jördis Johannson singen ein von Christian Dähn vertontes Gedicht von Othmar Mahlmeister. Heinzelmännchen werden im Text lebendig, bis plötzlich »endgültig Schicht« ist. Bekanntlich wurde die Fabrik 1990 geschlossen.
Die jeweils zehnminütigen Szenen der vier Stationen werden in der Inszenierung von Intendant Enrico Urbanek durch einen Hupton eingeleitet und beendet wie einst die Schichten in der Fabrik. In einem weiteren Raum zeigen Textil- und Design-Studierende der Hochschule Reutlingen Installationen, die als Semesterarbeiten unter Leitung von Irina Pleshkova entstanden sind. Die Studenten geben bereitwillig Auskunft: »Die Textilproduktion ist zwar ausgelagert, aber der kreative Part ist hierzulande schon noch gefragt«, sagt einer.
Im ersten Stock begleitet Klangkünstler Bernd Wegener im grauen Maschinistenkittel mithilfe von Eisenringen, Tischtennisbällen und Becken, die an Seilen schwingen, einen Schwarzweißfilm mit ratternden Strickmaschinen, die er im Industriemagazin aufgenommen hat. Zuletzt fegt Wegener die Zuschauer mit dem Besen hinaus. Der rote Faden samt Garnknäuel-Installationen sind von Strickkünstler Wolfgang Rätz, der einst selbst ein Atelier in der Fabrik hatte.
Knalleffekte in der Küche
Ganz oben in der leeren Kantine serviert ein Projektchor junger Frauen unter Leitung von Ulrike Härter eine Modenschau mit Pelzen und Pluderhosen und besingt, durch die Durchreiche lugend, schwäbische Spezialitäten. Christian Dähn bringt mit seiner Küchen-Percussion Spüle und Herd, Schränke, Bleche und sogar die Heizkörper zum Klingen.
Im zweiten Teil erzählen die beiden Schauspielerinnen die Firmengeschichte. Sie mimen Beraterinnen einer Firma, die auf die Umnutzung früherer Industriebauten spezialisiert ist. Die Erfolgsgeschichte begann Ende des 19. Jahrhunderts, als der Fabrikant Hermann Heinzelmann mit der Reformunterwäsche des Mediziners Dr. Johann Lahmann europaweit reüssierte.
Außerdem sind Originaltöne früherer Beschäftigter der Heinzelmann-Fabrik zu hören. Wegener und Dähn liefern den Soundtrack. Auf sechs Banner werden passende Bilder projiziert. Hakenkreuze und rotes Licht erzeugen beklemmende Stimmung, als es um die NS-Zeit geht. Im Zweiten Weltkrieg wurden hier Granaten und Gewehrreiniger produziert, erfahren die Zuschauer.
Die Chorsängerinnen liefern Klassik-Begleitung, spielen selbst mit und führen immer wieder Planie-Moden vor. Verkaufsgespräche dehnen Badeanzüge in jede Größe. Heiteres aus dem PR-Fundus: Im 19. Jahrhundert preisen Soldaten die Heinzelmann-Unterwäsche, in den 1950ern fangen die Werbegedichte bei Adam und Eva an. Überhaupt diese Werbung: Man merkt, dass die genutzten Quellen viel Selbstdarstellung des einstigen Renommierbetriebs beinhalten. Aber das trübt den gelungenen Abend kaum.
Theater Die Tonne und Partner lassen Textilgeschichte lebendig werden
von Christoph B. Ströhle
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 25.02.2017
Theater in der Planie 22 - Die Tonne und viele Partner lassen in »Was das für Zeiten waren« 100 Jahre Textilgeschichte lebendig werden
REUTLINGEN. Allein schon der Bühnenstreifzug durch 100 Jahre Textilgeschichte im Theatersaal in der Planie 22 ist stark. Hinzu kommen Installationen, Ausstellungen und Vorführungen im ganzen Haus, die ihrerseits für Staunen sorgen.
»Was das für Zeiten waren« – unter diesem Titel lässt das Theater Die Tonne mit vielen Projektpartnern die Geschichte der 1990 liquidierten Firma Heinzelmann und des Heinzelmann-Areals noch einmal aufleben – und wirft mit Textil- und Designstudenten der Reutlinger Hochschule auch einen Blick in die textile Zukunft. Die Premiere am Donnerstag endete mit begeistertem und lang anhaltendem Applaus für alle Beteiligten.
Der Abend beginnt mit einem Rundgang durch den Gebäudekomplex, der seit Jahren der Stadt Reutlingen gehört. Die Zuschauer sind in vier Gruppen eingeteilt worden. Alle bekommen dasselbe zu sehen, nur eben in unterschiedlicher Reihenfolge. Im ersten Stock geben die Maschinen- und Strickinstallationen von Wolfgang Rätz einen Eindruck davon, was Unternehmertum mit Handwerk und Fantasie verbindet.
Küchen-Percussion
Der Musiker Bernd Wegener (im Blaumann) stempelt an dem aus Fabrikzeiten erhalten gebliebenen Gerät zur Arbeitszeiterfassung erst einmal ein. Die alte Betriebströte ertönt, das Zeichen zum Beginn – und später zum »Schichtwechsel«. Wegener setzt eine Nähmaschine und ein Wägelchen mit Garn in Gang, das sich langsam durch die Produktionshalle bewegt.
Zum Rhythmus der Strickmaschinen, die in einem Filmeinspieler zu sehen sind, erzeugt er experimentelle Klänge. Wie ein Zeremonienmeister bewegt er sich durch den Raum, lässt Tischtennisbälle in einer Trommel kreisen, schlägt Glocken in verschiedenen Tonhöhen an, hantiert mit Klangschalen und Becken, denen er mit einem Kontrabassbogen meditativ-metallische Klänge entlockt. Flötenartig der Klang eines geringelten Schlauchs, in den Wegener hineinbläst. Dann, wie in einem fernöstlichen Reinigungsritual, streicht er mit Weidenruten über Apparaturen und Wände. Und da ist sie schon wieder, die Tröte. Fast wie bei der Reutlinger Kulturnacht – nur dass man hier nicht die Sorge haben muss, an anderer Stelle etwas zu verpassen – zieht das Publikum weiter zur nächsten Station, in die alte Kantine. Hier tritt Christian Dähn lautstark in Erscheinung.
Zunächst aber ist das von Ulrike Härter geleitete Mädchenensemble Cantanti Contenti an der Reihe, führt zu hippen Beats vom Band schwungvoll und dynamisch eine Modenschau vor. Retro-Mode der 60er- und 70er-Jahre, schrill-bunte Blusen und Hosen mit Schlag, darüber – es ist kalt im Raum – Woll- oder Pelzmäntel. »Schubidua« singen die 13 Sängerinnen des Chors dann a cappella und schnippen mit den Fingern.
Rhythmusbetont geht es weiter mit Christian Dähn (mit Kochmütze), der mit Küchenutensilien Percussion spielt, bevor er zum Drumset wechselt. »Backstoikäs ond siaße Schnegga« tönt es im Sprechgesang von der Essenausgabe, wo die jungen Sängerinnen als »Heinzelfrauen aus der Küche« Platz genommen haben.
Der Speiseplan aus dem Jahr 1960, der auch in gedruckter Form aushängt, sieht außerdem »Laisa, Kendlesbrei ond Grieba« vor. Tatsächlich wurde die Heinzelmann-Kantine in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg für Pausen und Modenschauen genutzt.
Spannend ist, was Reutlinger Textil- und Designstudenten unter der Leitung von Irina Pleshkova vorbereitet haben. In der Kantine und im Keller zeigen sie aktuelle Mode-Entwürfe, ihre Semester-Abschluss-Arbeiten, die beispielsweise den Fallschirm als Motiv und Ausgangspunkt haben, sich mit Wolkenkratzer-Optik oder der Kleidsamkeit von Baumrinde beschäftigen. Sehr individuell kommen diese textilen Visionen daher und machen deutlich, dass der Traum von Mode aus Reutlingen auch nach dem Niedergang der heimischen Textilindustrie noch nicht ausgeträumt ist.
Zu eigens geschaffenen Wärmebild-Filmen von Casa Magica – dahinter stecken die Tübinger Sabine Weißinger und Friedrich Förster – singt und »loopt« Silvia Pfändner im Umkleideraum vor dem Schwimmbad im Keller Alltagsraunen in ein Mikro. Die Filme auf Bildschirmen zwischen den Spiegeln zeigen sich Föhnende, Rasierende, Waschende. Im Firmenschwimmbad, in dem früher Bademode getestet wurde, eröffnen eine Casa-Magica-Projektion, die sich über die Spiegelung im Wasser fortsetzt, und melancholische Gesänge (»Auf Flügeln drei Gänse ziehen«) einen seltsam unwirklichen Echo- und Andachtsraum.
Silvia Pfändner und Jördis Johannson sind hier die Akteure, die Komposition stammt von Christian Dähn, der Liedtext von Othmar Mahlmeister, die eingespielten Wasser-Klänge von Bernd Wegener. Mit Faden-Installationen in zwei Umkleideräumen greifen die Hochschulabsolventinnen Louise Sophie Specht und Saskia Kopfnagel die surreal überzeitliche Anmutung auf.
Kampagne »Save History«
Es trötet zur Pause. Im Theatersaal, den die Tonne noch bis Ende Juli bespielt, dann endet die Betriebsgenehmigung, erwartet die Zuschauer der von Karen Schultze geschriebene und von Enrico Urbanek inszenierte zweite Teil. Ilona Lenk hat mit Stoffbahnen, auf die historische Fotos und Filme projiziert werden, ein zugleich schlichtes und vielseitig nutzbares Bühnenbild geschaffen.
Silvia Pfändner und Jördis Johannson entführen als PR-erprobte Managerinnen einer »Save History«-Kampagne in die 100 Jahre währende Heinzelmann-Firmengeschichte. Sie weisen darauf hin, dass ein erster Investorenwettbewerb für das mittlerweile komplett denkmalgeschützte Gebäudeensemble erfolglos geblieben und die künftige Nutzung des Areals offen ist.
Die Zuschauer erfahren, was Heinzelmann zu einem der führenden Unternehmen auf dem Gebiet der Trikotagen- und Strickwaren sowie von Bade-, Strand- und Freizeitmode machte: die Dr.-Lahmann-Wäsche – aber auch Produkte wie die Heinzelmannschen Badeanzüge »Orchidee«. In Erzählpassagen, Originaltönen ehemaliger Mitarbeiter und von Pfändner, Johannson und den Mitgliedern von Cantanti Contenti vorgetragenen Zeugnissen aus den Jahren 1885 bis 1990 entsteht ein lebendiges Bild der ebenso bunten wie wechselvollen Familien-, Firmen- und Zeitgeschichte.
Die Tonne hat den spannenden und unterhaltsamen Abend noch bis zum 26. März im Programm.
Der Körper badet in der Luft
von Kathrin Kipp
REUTLINGER NACHRICHTEN, 25.02.2017
Hundert Jahre Heinzelmann-Geschichte, 14 Jahre Theater-Geschichte: Die Planie 22 hat was zu erzählen. Das Tonne-Theater hat nun tief ins Gebäude seiner langjährigen Zweit-Spielstätte hineingehorcht und daraus eine tolle Collage zusammengestellt. Sie bringt noch einmal Leben in die Bude, mit einem assoziativen Rundgang durchs verschachtelte Gebäude und einem szenischen Abriss der Firmengeschichte, die exemplarisch die Reutlinger Textil-Industriegeschichte abbildet.
Zuschauer wandern
Das Publikum wandert in vier Expeditionsgruppen durch die charmant heruntergekommenen Strickmaschinen-Hallen, durch Treppenhaus, Technikräume, Kantine und Schwimmbad – wo einst Bademode getestet wurde. Und das jetzt noch einmal mit Wasser befüllt wurde, um die Muster-Illuminationen der Casa Magica geheimnisvoll widerzuspiegeln. Der Pool wirkt doppelt tief, eine optische Täuschung, die vielleicht auf den Zweck von Mode verweist, nicht nur gut auszuschauen, sondern mit schrillen Mustern von der ein oder anderen unvorteilhaften Ausbuchtung am Körper abzulenken, wie es später im Text heißt.
Die elastische Bademode wird von Heinzelmann aber erst nach 1945 produziert – zur Gründerzeit war man noch mit der atmungsaktiven Reform-Baumwollwäsche nach dem Rezept von Dr. Lahmann in den Unterwäsche-Olymp aufgestiegen: ein bisschen teurer, aber qualitativ so hochwertig, dass man damit sogar den Gotthard hinauf schwitzen und in der Kälte wieder hinabsteigen könne, ohne einen Hauch Frost zu verspüren, heißt es.
»Der Körper badet in Luft«, lobpreisen Silvia Pfändner und Jördis Johannson in der szenisch dargestellten Firmengeschichte die Funktionswäsche (Text: Karen Schultze, Regie: Enrico Urbanek). Die beiden Schauspielerinnen erzählen auch die Familiengeschichte – unter anderem, wie sich eine der zugezogenen Heinzelmann-Gattinnen über die Geist- und Kunstlosigkeit Reutlingens beschwert.
Geist und Kunst stecken ebenfalls nur andeutungsweise in den vielen braven Werbeschnipseln, die zitiert werden, zwischen den überdimensionalen Stoffbahnen von Ilona Lenk. Die irgendwann auch als Hakenkreuzfahnen flattern: Die beiden Soundtüftler Christian Dähn und Bernd Wegener lassen auf einer großen Pauke die Panzer rollen – die beiden Weltkriege treffen auch die Heinzelmann-Fabrik mit aller Wucht.
Rhythmus der Maschinen
Wegener und Dähn steuern in den unterschiedlichen Räumen den experimentellen Sound bei oder geben den Maschinen- und Arbeitsrhythmus vor, während Pfändner und Johannson an den Ufern des Heinzelmannschen Test-Badesees anmutig singen. Die Industrialisierung als Fluch und als Segen.
Dann wird wieder der große Bogen zur Gegenwart geschlagen: Studierende der Hochschule für Textil- und Design stellen in einem weiteren Kellerraum ihre so luftigen wie erdigen Semester-Abschlussarbeiten aus, eine Mischung aus Materialstudie, Mode, Experiment und Kunst. In einer solchen Geschichte darf das textile Werk von Strickkünstler Wolfgang Rätz keinesfalls fehlen.
Er hat für die Planie-Show nicht nur ein Fahrrad, eine Bank und einen Leitpfosten bestrickt, sondern auch seine urbanen Strick-Reste aus dem schmutzigen Stadtverkehr zu einer neuen Skulptur verknüpft. Der hängende, wollige Kasten erinnert an eine Gefängniszelle: Klamotten sind ja manchmal nicht nur schön, sondern können auch zwicken, kratzen und einschnüren.
Einschnüren kann einen auch der eng gestrickte Arbeitsalltag – auch wenn die Heinzelmann-Zeitzeugen eher positive Erinnerungen teilen: Die Erzählung über das gute Essen, die familiäre Atmosphäre, die gute Bezahlung und das kleine Betriebs-Nickerchen wird kontrastiert vom Lied der Weber – »Deutschland, wir weben dein Leichentuch«, intoniert vom Projektchor von Ulrike Härter. Der außerdem in der ehemaligen Kantine und Küche neckisch in der Durchreiche steckt und den Speiseplan auf Schwäbisch singt.
Wenn der Koch (Christian Dähn) nicht gerade lazy auf den Küchengeräten herumtrommelt, ist der Arbeitsalltag meist recht streng getaktet. Das kommt in Bernd Wegeners Strickmaschinen-Performance zum Ausdruck: Er beklopft und bewegt die Maschinen, assoziiert sich akustisch durch das Verhältnis von Mensch und Maschine und kehrt schließlich mit seinen Weidebögen alle hinaus aus der Fabrik: 1990 wurde die Firma liquidiert.
Und so kommt die Textil-History-Show so inspirativ wie informativ daher. Mit der man am Ende eine breite Diskussion um die zukünftige Nutzung des Industrie-Areals und des denkmalgeschützten Gebäudes anstoßen will.