WAS TUN, WENN EINER SICH VERLIERT?

von Dagmar Varady
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 26.11.2012

 

REUTLINGEN. Erinnerungen sind kleine Schätze, die einen trösten können und aus denen man gelegentlich Kraft schöpfen kann. Sie machen das ganz persönliche Lebensmosaik aus. Doch was, wenn dieses Mosaik einfach auseinanderfällt, wenn die Erinnerungen verblassen? Wenn es sogar so weit kommt, dass man sich nach und nach selbst verliert?

 

Daniel Call (hier auch als Regisseur) greift dieses Thema in seinem Schauspiel »Wege mit dir« auf, einem Stück über das heikle Thema Alzheimer, das am Samstagabend in der Spielstätte Planie 22 des Tonne-Theaters die Reutlinger Premiere feierte. Das Bühnenbild von Eric van der Zwaag kokettiert mit dem Motiv des Mosaiks. Die Kulissenwand besteht aus bunt zusammengeflickten Bettbezügen, die wie unterschiedliche Erinnerungen und Gedanken nebeneinander walten.

 

Anna und Kaspar - beide nicht mehr ganz so jung - verlieben sich nach jeweils gescheiterter Ehe ineinander. Eine anregende Beziehung voller Dynamik entwickelt sich. Gemeinsamkeiten werden gesucht und gefunden und originelle Gespräche geführt. Gerade Kaspar ist ein eloquenter und schlagfertiger Gesprächspartner. Doch allmählich kündigen sich Gedächtnislücken an, immer mehr entgleitet ihm.

 

MIT DASEINSBEJAHUNG
Insbesondere der erste Teil des Schauspiels steckt voll Witz, Spitzfindigkeiten und sogar einer gewissen Leichtigkeit. Das ernste Thema kündigt sich zwar allmählich an, wird aber doch nicht tieftraurig genommen, sondern stets mit einer Daseinsbejahung und Schicksalsergebenheit. Anne Else Paetzold spielt eine sympathische Anna in knallrotem Kleid (als »rote Fackel«), die zugleich voll freudiger Energie und charmanter Sensibilität steckt. In Eric van der Zwaag als Kaspar hat sie einen idealen - wenn auch etwas jüngeren - Gegen- oder besser Mitspieler gefunden. Selbstsicher, geistvoll, ungezähmt, immer authentisch in Gestik und Mimik, verkörpert er den Mann, den Anna anfangs noch nicht so ganz einzuordnen vermag: Ist er arrogant, »großmäulig oder einfach nur kindisch«?

In Monologen durchforsten Anna und Kaspar mehrfach die Vergangenheit, ihre Beziehung, ihre ganz persönliche Realität. Kaspar beginnt hierbei zunächst unbeschwert und selbstbewusst, lässt jedoch schleichende Gedankenlücken erkennen, verliert den Faden und wirkt zunehmend hilflos.

Annas langjähriger Verehrer Laszlo (Rüdiger Götze mit Märchenonkelstimme) diagnostiziert als Gehirnchirurg letztendlich die Krankheit Alzheimer bei Kaspar. Und genau zu diesem Zeitpunkt entschließt sich Anna doch noch dazu, Kaspar zu heiraten. Ein heikel gewählter Zeitpunkt, stellt sich freilich nun die Frage: Ist das Liebe oder Mitleid? Annas Tochter Raika (Rose Vischer) ist diejenige, die diesen Zweifel ausspricht. Indem sie mit Kaspars niemals sprechendem Sohn Gustav (Stephan Wiedwald) eine Beziehung beginnt, möchte sie eigentlich alles anders als die Mutter machen.

AUTHENTISCH GESPIELT
Stark sind die Momente, in welchen Eric van der Zwaag seine beginnende Verwirrung zur Schau stellt. Ziellos läuft er hin und her, platziert wahllos Dinge irgendwohin, lässt Zitatfetzen fallen, faselt wirr und führt Zwiegespräche mit einem wütend schimpfenden Gegenüber. Auf einen Schlag verwandelt erscheint die Szenerie nach der Pause. Kaspar ist nur noch eine Ruine seiner selbst. Sein Blick schweift ins Leere, die Finger greifen ab und an in Zeitlupengeschwindigkeit wahllos in die Luft - van der Zwaag spielt das ungemein authentisch! Doch auch Paetzold zeigt eine fragile Anna, die zwischen Selbstverantwortung und Selbstaufopferung schwankt.

Für dieses eindrucksvolle Schauspiel gab es vom vielköpfigen Publikum im ausverkauften Saal einen ebenso eindrucksvollen Schlussapplaus. Ein Lob an ein Stück voll Mitgefühl und Humor - eine gelungene Mischung.

 

 

REISE IN UNBEKANNTE WELTEN

von Kathrin Kipp
REUTLINGER NACHRICHTEN, 26.11.2012


Daniel Call gibt mit »Wege mit dir« ein wenig den deutschen Eric-Emmanuel Schmitt: Boulevard der gehobenen Klasse, mit einer erfolgreichen Mischung aus Drama und Gefühl, luftig-heiterer Stimmung, anrührendem Thema, Sprachkunst und Poesie, immer knapp am Rand zum Kitsch, und blumigen, leicht manierierten Dialoge. Die betont kultivierten Figuren geben jede Menge Metaphern zum Besten: »Er hat sein Leben ausgeschöpft. Du hast ihm bis zum Schluss die Kelle gehalten«, aber kennen sich auch bestens in Sprachklischees aus: »Sie ist so sexy, wenn sie wütend ist.«

Das Stück ist so sprachverliebt, dass ein wenig die Lebensechtheit darunter leidet. Bei einem wiederum sehr realen Thema: Demenz. Daniel Call hat dieses angstbesetzte Thema betont locker verpackt. »Melodram« nennt er sein Stück (Uraufführung: 2005, Chemnitz), und mit viel gefühliger Melodie hat er es auch an der Tonne inszeniert. Mit Schauspielern, die perfekt ins Konzept passen.

Und mit viel Musik, bei der die Geigen im weinenden Himmel hängen. Die Geschichte erzählt sich aus den Erinnerungen der Hauptpersonen, und das Bühnenbild (Eric van der Zwaag) zeigt eine erinnerungszerfetzte »Projektionsfläche« aus bunt zusammengeschneiderter Bettwäsche - fast ein hippiehafter Gegensatz zu den geschniegelten Plaudertaschen auf der Bühne.

Anne Else Paetzold spielt die schneidige und - wie es sich für eine leicht zickige Diva gehört - temperamentvolle Anna, die quasi nach schwerer Enttäuschung noch einmal aus dem Haus geht, um auf der »Singlebörse« Dichterlesung Ausschau nach Zerstreuung zu halten.

Was denn auch prompt klappt. So kann sie den ebenfalls hochkultivierten Elitepartner, Sprücheklopfer und Scherzkeks Kaspar (Eric van der Zwaag) an Land ziehen, der den eindeutig aktiveren Part der Partnerschaftsanbahnung spielt: Handkuss, Tänzchen, die beiden ziehen eine fast schon barocke Show ab.

Der großen Liebe kommt allerdings das Schicksal ins Gehege: Kaspar wird dement, ein "Abschied auf Raten", und vor allem ein geistiger. Ausgerechnet er, ein durch und durch geistes- und sprachverknallter Mensch, dessen größte Lust es ist, sich mit seinen Mitmenschen in gepfefferte Dialoge zu verlieren und ständig irgendwelche Sarkasmen und geschliffene Sottisen abzufeuern. Auch mit Anna lästert er gerne, aber: Hochmut kommt vor dem Fall. Kaspar, der sich pausenlos über die Dummheit der Welt lustig macht, wird von eben dieser Dummheit heimgesucht. Andererseits beginnt ab diesem Zeitpunkt das Stück erst richtig zu leben: Eric van der Zwaag rutscht als Kaspar vom betont niveauvollen Snob beinahe unmerklich hinein in die Vergesslichkeit, Angst, Verdrängung, Selbsttäuschung und Verwirrung.

Da hilft auch kein mantramäßiges Zitieren altbackener Liebessprüche mehr. »Konzentrier dich!«, befiehlt er sich, und versucht, mit ergotherapeutischer Poesie - »Zeit für das Dreieck« - die Krankheit zu verscheuchen: Eine sehr aussagekräftige Szene, in der Kaspar erfolglos versucht, das Viereck in seinem Kopf ins Dreieck zu bekommen. Sowas macht aggressiv. Später schlürft er im Bademantel dementiell beunruhigt hin und her, mit Koffer in der Hand und stierem Blick auf der »Reise in eine unbekannte Welt«.

Viel Nebel im Hirn und aus der Kulisse. Anna, die sich betont unabhängig gibt, sich aber auch ständig als Opfer ihrer Männer darstellt, will ihren Kaspar bis zum Schluss pflegen. Das bringt sie an ihre Grenzen. Und zieht den Zorn ihrer Familie auf sich.

Aber Anne Else Paetzold zeigt ihre Anna nicht als gebrochenes Wrack, sondern mit enormer Widerstandskraft: Bockig stellt sie sich dem Schicksal entgegen, bis zur Selbstaufgabe im »Mausoleum«. So zumindest drückt es ihre Tochter Raika (Rose Vischer) aus, die zu immer drastischeren Worten greift, um ihre Mutter aus der Selbstzerstörung zu ziehen. Gleichzeitig wiederholt sie natürlich die Biographie der Mutter und wird schwanger, noch bevor sie es sich in der bürgerlichen Gesellschaft bequem machen kann.

Sie hat sich interessanterweise in Kaspars Sohn Gustav verliebt, mit dem die Inszenierung einen echt coolen Kontrapunkt setzt: Stephan Wiedwald von der Schauspieler-mit-Handicap-Abteilung der Tonne spielt diesen Gustav und ist als Sohn eines dermaßen redseligen Vaters einfach komplett verstummt.

Und so trottet Stephan Wiedwald hinter den anderen her, und wenn er was gefragt wird, zuckt er einfach mit den Schultern: ein Totalverweigerer, der die Gestelztheit der gesamten Familie äußerst sympathisch konterkariert. Rüdiger Götze wiederum als befreundeter Hirndoktor steht Anna mit Rat, Tat und ewig unerwiderter Liebe bei.

 

 

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