Keiner kommt daran vorbei

von Matthias Reichert

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 23.02.2015

 

»Weiterleben«: Die Reutlinger Tonne gestaltet einen Theaterabend zum Thema Tod und Sterben

 

REUTLINGEN. Man kann über alles reden. Warum nicht auch über den Tod? Dachte sich Tonne-Intendant Enrico Urbanek und machte ein Theaterstück aus dem Thema. Am Samstag war die Uraufführung - das Publikum im ausverkauften Spitalhofkeller war sehr angetan.

 

Die Schauspieler Yvonne Lachmann und Michael Schneider haben drei Wochen Passanten und Angehörige Todkranker über Erfahrungen mit dem Sterben befragt. Das Ergebnis ist in Videoeinblendungen zu sehen. Auch in einer szenischen Lesung mit dem Bericht eines Elternpaares, das die sechsjährige Tochter durch einen Gehirntumor verliert - die eindrücklichsten Passagen des Abends. Die Eltern beschreiben, wie tapfer die Tochter den nahenden Tod aufnahm und wie sie ihnen und den Geschwistern die schlimmsten Augenblicke ersparte.

 

Ein wenig voyeuristisch ist diese Versuchsanordnung, auch wenn sich die Akteure alle Mühe geben, genau das zu vermeiden. Aber wenn sie beispielsweise einen Musiker im Supermarktcafé vor laufender Kamera zum Tod seines Vaters befragen und dann immer nochmals nachfragen - dann wirkt das zumindest etwsa penetrant, auch wenn der Musiker bereitwillig Auskunft erteilt.

 

»Keiner kommt daran vorbei«, sagt der Musiker. Es sei eine unglaublich wertvolle Zeit gewesen. Das Licht bleibt an, so sind die Zuschauer ins Geschehen einbezogen. Eingangs erzählen die Akteure von ihrem Projekt. Locker-flockig, ohne vorbereitetes Skript. Später sitzen sie am Küchentisch in der Bühnenmitte und fragen sich gegenseitig nach den eigenen Erfahrungen mit dem Sterbe-Thema. Lachmann weicht aus, gibt zunächst das vorher gehörte Interview mit einer Muslimin wieder. Schließlich verleiht sie ihrer Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod Ausdruck.

 

»Weiterleben«, so heißt auch das Stück. Weiterleben müssen die Angehörigen, die Interviewten halten sich an die Hoffnung, dass es in irgendeinem Jenseits weitergeht. Der frühere Prälat Claus Maier bemüht das Paulus-Gleichnis vom Weizenkorn. Ein muslimischer Geistlicher erklärt: »Wir sind alle Brüder. Die Seele geht zu Allah.« Bevor die Kamera abblendet, erklärt er schnell, der Islam sei eine friedliche Religion. Und eine Zeugin Jehovas namens Ruth schwadroniert vom Endzeit-Kampf mit dem Satan.

 

Ein Mann vom Standesamt beschreibt, wie Einsame sterben - manche liegen eine Woche tot in der Wohnung, ehe sie jemand findet. Auch Passanten auf der Straße hatten einiges zu erzählen. »Man braucht ganz viel Zeit«, haben die Akteure erfahren. Die nahmen sie sich in der Städtischen Galerie für eine Mitarbeiterin, die eindringlich vom Tod ihres Zwillingsbruders berichtet. »Toll, dass Sie gekommen sind«, sagt sie am Ende. »Mir tut das auch mal gut - wer will das schon wissen da draußen.«

 

Das Interview hat eine Film-Fortsetzung am Klaver, wo sie mit Schneider »Love me tender« anstimmt. Musik verhindert, dass der Abend zur Betroffenheits-Qual ausartet. Schneider und Lachmann singen zu Klavier, Geige und Gitarre. In einer Szene entlocken sie den Saiten des Flügels Sphärenklänge, später spielt Schneider ein Stück von Bach. Etwas ratlos bleibt das Publikum bei eiiner kurzen Szene über einen jenseitigen Antrag, wo Schneider als Antragsteller seine Vita erzählt und Lachmann als himmlische Sekretärin sagt, ihrem Chef sei das mehr oder weniger egal. Man hört vertonte Gedichte. Und als Abspann nennt Lachmann alle Mitwirkenden - auch die Hebamme, die Wollmützchen für die Akteure gestrickt hat.

 

Der Ambulante Hospizdienst hat Kontakte zu Angehörigen Sterbender vermittelt. Ein zweistündiges Interview fasst Lachmann ohne Zitate und Bilder zusammen - mit einer Frau, die den 20-jährigen Sohn verlor. Der Bericht erschöpft sich zunächst in medizinischen Details. Die Mutter ließ sich mit 50 einen Vogel auf den Arm tätowieren. »Jetzt trägt sie den Sohn unter der Haut«, sagt Lachmann. Solche berührenden Details lassen die Gratwanderung glücken. Etwa der Rentner, der ein lakonisches Gedicht über das Sterben vorträgt. Oder besagte muslimische Mutter, die im Interview ihr Innerstes preisgibt, während ihr Kind gelangweilt Grimassen schneidet.

 

Rollstuhlfahrerin Franziska Schiller liefert den Spruch des Abends und erklärt, warum sie nicht in den Himmel möchte: »Immer auf der Wolke sitzen und Harfe spielen, ist mir zu langweilig. Ich will lieber in die Hölle und mit den Teufeln Party machen«.

 

Unterm Strich

Der Tod gehört zum Leben - aber auch auf die Theaterbühne? Die Reutlinger Tonne inszeniert in einem ambitionierten Projekt sehr persönliche Erfahrungsberichte von Passanten und Angehörigen Sterbender. Berührende Details lassen diese Gratwanderung glücken.

 

 

Schmerz, Hoffnung, Trauer, Trost

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 24.02.2015

 

Uraufführung - Das Theater Die Tonne beschäftigt sich in »Weiterleben« mit Tod und Sterben in Reutlingen

 

REUTLINGEN. »Die Seele kommt in den Himmel«, erklärt ein Kind im Grundschulalter vor der Kamera – und fügt hinzu: »Man kann ja nicht, wenn man schon gestorben ist, wieder auf die Erde kommen. Das geht ja nicht.« So plausibel ist es oder kann es sein, das mit dem Sterben und dem Tod.

 

Die Schauspieler Yvonne Lachmann und Michael Schneider haben sich für die jüngste Produktion des Reutlinger Theaters Die Tonne unter den Menschen in Reutlingen und Umgebung umgehört. Ob Tod und Sterben – als Gedanke, als erlebte Realität – in ihrem Alltag eine Rolle spiele, wollten sie von den Befragten wissen.

 

Die Antworten sind so vielfältig wie das Leben selbst. Viele der als Filmeinspieler oder O-Ton vorgestellten, berichteten oder vorgelesenen Aussagen gehen unter die Haut. Dabei fällt auf, dass der Theaterabend, der unter dem Titel »Weiterleben« in Kooperation mit dem Ambulanten Hospizdienst Reutlingen entstand und im Tonne-Keller seine Uraufführung erlebte, in seinen bewegendsten Momenten gar nicht theatralisch ist.

 

In der Regie von Enrico Urbanek hat nicht das Künstlerische oder gar Gekünstelte das letzte Wort, sondern das behutsame Innehalten, das Anteilnehmen, das Nachdenken und das Staunen.

 

Vorsicht und Achtsamkeit

Komponiert aus Beiträgen der Befragten, Reflexionen und Musikdarbietungen Lachmanns und Schneiders halten sich hoffnungsvolle und schmerzliche Momente die Waage. »Die Hoffnung stirbt zuletzt. Man kann auch mit der Hoffnung sterben«, meint eine Frau, die ihren erwachsenen Zwillingsbruder in seinen letzten Stunden begleitet hat. Sie hat volles Verständnis dafür, dass ihr Bruder angesichts des Unvermeidlichen nicht über den Tod sprechen wollte, und sagt: »Vielleicht werden wir ja auch in diesem Moment geboren.«

 

Mit Vorsicht und Achtsamkeit, so berichten die Darsteller, seien sie an die Gespräche herangegangen. Auch, dass sie ausreichend Zeit mitbrachten, sei wichtig gewesen. Erstaunen kann man über die Einfühlsamkeit eines Standesbeamten, der daran erinnert, dass viele Menschen in Reutlingen einsam sterben, ohne soziales Netzwerk, ohne dass es jemand bemerkt und sie vermisst.

 

Musikalisch bewegen sich die beiden Tonne-Akteure zwischen einem Trost spendenden Solostück für Violine von Johann Sebastian Bach (Schneider) und einem auf der Mundharmonika gespielten Blues (Lachmann).

 

Symbolisch aufgeladen wirken Momente, wenn Schneider auf der Geige das Ticken einer Standuhr nachzeichnet oder Lachmann über die Saiten des geöffneten Flügels pfeift und einen sphärischen Nachhall erzeugt.

 

Besonders plastisch wird das Leben der kleinen Lene, die mit sechs Jahren an den Folgen eines Hirntumors starb. Sie sei stark gewesen und habe die ganze Familie getröstet, ergibt sich aus den Schilderungen der Eltern, die zehn Monate um sie bangten – und viele kostbare, auch humorvolle Stunden mit ihr erlebten.

 

Zuletzt haben sie mit Lene Tassen bemalt. »Die sind heilig. Und werden trotzdem jeden Tag benutzt.«

 

 

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