»ZEITFENSTER«: REISETIPPS FÜR AUßERIRDISCHE

von Armin Knauer

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 19.05.2014

 

 

Das integrative Ensemble der Tonne erklärt in »Zeitfenster« denen da draußen im All, wie es auf der Erde läuft

 

Manchmal fällt einem erst auf, wie seltsam eine Sache ist, wenn man versucht, sie jemand anderem zu erklären. Ob das auch für den Menschen an sich gilt? Die Tonne hat mit ihrem Ensemble von Darstellern mit Behinderung die Probe gemacht. In ihrem Stück »Zeitfenster« versucht sie, gedachten Besuchern aus dem All zu erklären, was sie am Urlaubsziel Erde erwartet.

 

Und so erleben die Premierengäste am Freitagabend in der Planie 22 Reiseführernotizen für Außerirdische: Die Erde, das Leben und der ganze Rest in zwölfmal fünf Minuten. Klingt verrückt, doch in der Regie von Enrico Urbanek und den Choreografien von Maura Morales wird daraus ein hintersinnig-verspieltes Nachdenken darüber, wer wir sind. Verrückt gleich der Anfang: Die ersten fünf Minuten nehmen die Darsteller für sich selbst. Stehen nur da und lauschen auf das Ticken ihrer Wecker, die einer nach dem anderen losrattern.

 

TANZ MIT DER SONNENKUGEL

Doch dann muss man erst mal den Gästen aus dem All den Weg beschreiben: »Ihr fahrt Richtung Milchstraße, ziemlich lang geradeaus«, erklärt Seyyah Inal und empfiehlt einen Zwischenimbiss auf der Raumstation ISS. Dazu tanzt Bahattin Güngör mit den Gestirnen, schickt die Sonne als Discokugel durch die Sphärenklänge von Michael Schneider und Valerio Pizzorno. Poetisch ist das, ein wunderbarer Kontrast zu Inals herrlich schnoddriger Wegbeschreibung.

 

Und schon tönt aus dem Off die Glocke von Big Ben, beendet das eine Schlaglicht und läutet das nächste ein. Nun ist man im Morgengrauen der Erdgeschichte und die Körper der Darsteller verwandeln sich in die Felsen der Urkontinente, wie sie träge durch den Schlamm der Frühwelt pflügen.

 

Doch schon gleich sind die Körper nicht mehr driftende Felsmassen, sondern winzige Moleküle und ballen sich in der Ursuppe zu ersten Organismen zusammen. Im Schlepptau von Elektrorollstühlen lassen sich die Keime des Lebens in entlegenste Ecken verfrachten.

 

Zeit, die Funktion des Körpers zu erklären. Mit Po-Perkussion geht das und Gabriele Wermeling als sich drehendem Anatomie-Exempel im Hintergrund. Die menschliche Sphäre wird konkreter. Wie leben wir miteinander? Wie kommunizieren wir? Zart lockender Geigenschmelz von Michael Schneider und Gitarrenflitter von Valerio Pizzorno befördern die Paarbildung. Erster Kuss, beschirmt von der Gruppe, und ein Schwarzlicht-Ballett zu Discomusik mit fluoreszierenden Riesenmündern.

 

LIEBE, GLAUBE, TOD

Das Mysterium der Liebe leitet über zu den großen Fragen der Spiritualität. Glaube, Religion, Tod. Bach-Choräle und Mohammed-Anrufung, Schamanengesang und Totenwaschung. »Ich bin der Friedhof«, deklamiert Jochen Rominger, und ein sanft summender Totenzug formiert sich hinter Inals Elektrorollstuhl.

 

Weiter zu »Politik und Wirtschaft«, ein menschliches Schachspiel, von Michael Schneider dirigiert. Kühle Strategie teilt die Welt in Gewinner und Verlierer, etliche räumen geschlagen das Feld.

 

Zu Schneiders todtrauriger Geigenklage kommt auch das Furchtbare zur Sprache: Seveso und Auschwitz, schmelzende Polkappen, Krieg und Zerstörung. Ein erschütternder Lagebericht, durch die Fächer eines Regals abgegeben, das den Bühnenhintergrund abschließt.

 

REGALWAND MIT DURCHBLICK

Überhaupt die Bühne von Ilona Lenk mit der von Christoph Henning gezimmerten Regalwand: Sie ist ein weiterer Geniestreich. Das Regal erlaubt Durchblicke und Schattentheater dahinter, alles davor wird zum Wohnzimmer Erde.

 

Was sich hier entspinnt, ist ein wundersames Erden-Welttheater, schlaglichtartig verknappt und doch ausgreifend, verspielt und doch tiefsinnig, karg und doch poetisch. Mit einer befreienden Unverblümtheit der Texte, mit packenden Bewegungsbildern.

 

Selten hat man den Schatz, der in dem ganz eigenen Welt-Erleben dieser besonderen Darsteller liegt, so leichtfüßig und traumwandlerisch sicher gehoben. Regisseur Urbanek, Choreografin Morales, Ausstatterin Lenk, den Musikern Schneider und Pizzorno und dem ganzen Team ist mit diesem Stück etwas Einzigartiges gelungen. Den Touristen von jenseits der Milchstraße ist zu raten: Schnellstens Tickets reservieren im intergalaktischen Kartenbüro!

 

 

GALAKTISCHES THEATER

von Kathrin Kipp

REUTLINGER NACHRICHTEN, 19.05.2014

 

 

Mit einer spacigen Raum-Zeit-Performance blicken die Schauspieler der Tonne-Baff-Theatergruppe durch ihr persönliches »Zeitfenster«. In ihrer neuen Produktion erklären sie den Außerirdischen die Menschheit.

 

Vor 40 Jahren hat man eine Raumsonde mit zentralen Menschheit-Infos an Bord ins Weltall geschossen. Jetzt ist Zeit für eine aktualisierte Version der »Golden Record«, um bei den Weltallbewohnern »falsche Eindrücke zu vermeiden«. Für den Fall, dass die Außerirdischen uns mal besuchen kommen wollen, übernimmt Seyyah Inal im neuen Tonne-Stück »Zeitfenster« die intergalaktische Navi.

 

Bahattin Güngör liefert dazu die Bilder: Mit einem schwerelosen Globus im Outfit einer Discokugel treibt er sein neckisches Spiel – vielleicht ein Verweis darauf, wie sich der Mensch gerne mal als Gott aufführt, der die Erde munter durch die Gegend schubst und am Ende in die Luft gehen lässt.

 

Der glitzernde Planet nimmt’s vergleichsweise gelassen. Noch. Denn man weiß nicht, wie lange es ihn und uns noch gibt. Deshalb ist es gut, wenn wir uns für die Nachwelt im Universum gut dokumentieren. Und so erklären die Schauspieler der Tonne-Baff-Theatergruppe den Außerirdischen ihre Sicht auf die Welt, aus ihrer ganz speziellen Perspektive und aus ihrem aktuellen »Zeitfenster« heraus.

 

Es ist ihr ganz persönliches Stück Welt, ihr Text, ihre Sichtweise (Regie: Enrico Urbanek). Es geht um ihren Raum, und es geht um ihre Zeit: Bei der Ouvertüre stehen alle Akteure auf der Bühne, so wie sie sind. Mit Zeitmessern in den Händen und Grau in Grau wie die Grauen Herren aus Michael Endes »Momo«, die versuchen, den Menschen die Zeit zu klauen.

 

Diese grauen Herren und Damen sind allerdings alles andere als fiese und uniformierte Zeitsoldaten, sondern stellen eine ganz besonders vielfältige und vielsprachige Menschheit dar. Dabei lassen sie sich Zeit, zeigen uns die Zeit und stellen sich dem Zeitlichen. Nichts passiert, nur ab und an klingelt einer der vielen Wecker und erinnert uns daran, dass die Zeit vergeht: ein permanentes Drama.

 

Das mittlerweile achte Stück der Tonne-Baff-Truppe ist diesmal mehr Choreographie (Maura Morales) als Text und mehr Bild als Sprache. Ausstatterin Ilona Lenk hat dazu eine spacy beleuchtete Setzkasten-Bühne gestaltet, mit noch mehr Weckern, die immer wieder mal losgehen und nervige Klingeltöne von sich geben. Das Leben ist eben streng getaktet: Kaum ist einer der Sprecher im Redeflow, wird er auch schon wieder vom Big-Ben-Glockenspiel unterbrochen. Nächstes Thema, nächstes Bild, Klingel Klingel, weiter, weiter, Stress, Stress.

 

Aber die Menschen mit Handicap lassen sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen und zwingen ihrer Mitwelt ihren eigenen Rhythmus auf. Hinter der Bühne begleiten Michael Schneider, Cornelius Hoffmann-Kuhnt und Valerio Pizzorno den Bilderbogen mit experimentellen Klängen und noch mehr Rhythmen. Derweil spielen die Darsteller vorne die Entstehung der Erde und wabernde Ursuppe.

 

Irgendwelche Urgeister treiben mit ihren gespenstisch angeleuchteten Wabbelbäuchen ihr Unwesen. Die trauen sich was! Alfhild Karle berichtet von der Entstehung des »Lebens«, während ihre Kollegen als erste Kohlenstoffverbindungen in Form von Glühwürmchen durch den Raum schwirren und sich zu einem großen Zellhaufen formieren.

 

Davon spaltet sich so einiges an Zellmaterial ab und wird per Rollstuhl in die zukünftige Existenz geschleppt. Irgendwann kriecht und fleucht alles. Wie genau sich alles abgespielt hat, darüber lässt sich nur spekulieren, aber die Tonne-Baff-Theatergruppe liefert die psychedelischen Bilder dazu. Auch zur »Anatomie des menschlichen Körpers«. Franziska Schiller zählt diverse Bestandteile auf – »Galle mit und ohne Steine«, während sich Gabriele Wermeling als Anschauungsobjekt zur Verfügung stellt.

 

Und so werden mit weiteren Stellungsbildern, Tanzformationen und optischen Effekten das menschliche Zusammenleben, die Liebe (»soll nicht ausgehen«), die Kommunikation sowie »Kult, Glaube, Religion« thematisiert. Allen Bildern ist gemeinsam, dass die Menschheit sich vor allem durch eines auszeichnet: durch Vielsprachigkeit.

 

Das reinste Babel. Und auch unsere Behinderungen sind sehr vielseitig. Das Thema »Poltik und Wirtschaft« wird als ferngesteuertes Schachspiel durchgespielt, dabei präsentiert sich der Mensch als nicht gerade sympathisches Wesen, und auch in »Risiken und Nebenwirkungen« kommt’s zu Krieg und anderen Katastrophen. Aber vielleicht können ja die Außerirdischen helfen, unseren Wahnsinn zu heilen. Wegbeschreibung und Gebrauchsanweisung haben sie jetzt ja.

 

 

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